Zur dritten Ausgabe von lettere aperte. Aus den cross sections der Italienischen Literatur
Ein Beispiel liefert die hier aus verschiedenen Blickwinkeln rekonstruierte «symbolische Revolution» im literarischen Betrieb zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die im Lichte eines feldimmanenten Agons beschrieben wird, genauer: als Versuch von aufstrebenden Figuren wie Croce, Papini oder Prezzolini, ihre strukturdeterminierte Außenseiterposition im Verbund mit Zeitschriften (u. a. „La Critica“, „Lacerba“), Verlegern (u. a. Laterza, Carabba) und akademischen Institutionen zu ihren Gunsten zu verändern (vgl. v. a. der Beitrag von Sisto). Die Entstehung neuer, im Zeichen deutschsprachiger Literatur stehender Kraftlinien (z. B. Croces hausgemacht italienischer Idealismus oder die von Stefania De Lucia untersuchte romantisch-metaphysische Tendenz im antipositivistischen Ambiente der Zeitschrift „Leonardo“) wird nun vorwiegend von außen beschrieben – das heißt unter Rückgriff auf Statistiken, auf biographische sowie (literarisch-)journalistische Zeitdokumente. Aber dabei bleibt es nicht. Die kontextuelle Ebene der Untersuchung wird stellenweise gedoppelt von der textuellen, insbesondere textphilologischen Ebene, die äußerlich quantitativen Fragen von qualitativen Fragen. Also nicht nur: was, wer und wann wird übersetzt, sondern auch wie?
So sind es nicht zuletzt Textanalysen, mit denen Irene Fantappiè beispielsweise argumentieren kann, dass die Übersetzungen Italo Tavolatos von Karl Kraus im Kontext eines (langfristig wirkungslosen) Imports zu lesen und als solche nicht nur aus genuinem Interesse an Kraus entstanden sind. Wie die Autorin anhand eines textbasierten Vergleiches illustriert, sind die Kraus-Übertragungen (hier paradoxerweise trotz ihrer sprachlichen Treue) in hohem Masse abhängig von ästhetischen und thematischen Kriterien ihres Zielkontexts. Das legt nahe, dass ihnen die Funktion der Verstärkung eines spezifisch italienischen Textkorpus, nämlich der florentinischen Avantgarde rund um Papini und seiner einflussreichen Zeitschrift „Lacerba“ zufällt. Wenn es also stimmt, dass «Texte ohne ihren Kontext zirkulieren», wie das Zitat Bourdieus in Daria Biagis Beitrag erinnert, so stimmt es auch, dass mittels einer textanalytischen Auseinandersetzung die Spuren eines Kontexts im Text freigelegt und daraufhin historisch besser eingeordnet werden können. Somit stimmt aber auch, dass der textphilologische Ansatz keine unwesentliche Rolle spielt, wenn es darum geht, eine der zentralen (und in der Tat originellen) Thesen, quasi das Herzstück des Projekts von Storie e mappe zu illustrieren – wie es Michele Sisto gleich zum Auftakt seines Beitrags formuliert: «Übersetzte Literatur ist, zumal in ihren wesentlichen Zügen, ein Produkt von denselben Autoren, die auch die italienische Literatur hervorbringen». Daraus folgt auch, dass die institutionalisierte Unterscheidung zwischen autochthoner und übersetzter Literatur aufzuheben, und letztere, wie es weiter lautet, an ein-und-derselben Stelle mit der autochthonen Produktion «in die Literaturgeschichten und Anthologien zu integrieren» ist.
Die „intrinsische“ Perspektive steht folglich im Dienst der „extrinsischen“ Perspektive und umgekehrt. Dass die Gewichtung beider von Studie zu Studie anders und insgesamt eher zu Ungunsten der textkritischen Komponente ausfällt, ist insofern irrelevant, als seitens der Autor*innen kein Anspruch auf Vollständigkeit geltend gemacht wird (ein solcher scheint aber aufgrund der bereits verwirklichten Arbeiten zumindest virtuell möglich, zumal wenn man der phantastischen Idee einer unbestimmten Anzahl ergänzender Untersuchungen, sowohl historisch-gesellschaftlichen als auch textimmanenten Schlags stattgeben würde). Aber schon zum aktuellen Stand gelingt den Autor*innen ein lebhaftes Gesamtbild der literarischen Situation Italiens zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Und dazu trägt auch die zwischen den Beiträgen existierende, thematische sowohl als methodische Komplementarität bei. Mit der vorliegenden Ausgabe von lettere aperte wollten wir nicht zuletzt einen Rahmen schaffen, in dem der dynamische, vielfältige und gleichsam einheitliche Charakter des Projekts Storia e mappe digitali della letteratura tedesca in Italia nel Novecento zur Geltung kommen kann.
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