Zur Interferenz von narrativen und dramatischen Verfahren in Dantes Commedia

Die Verschränkung narrativer und dramatischer Verfahren in der Commedia und ihre Funktionen

(1) Im ersten Gesang des Inferno begegnet der Wanderer dem Schattenleib Vergils, der ihn als Führer durch die Jenseitsreiche des Inferno und des Purgatorio begleiten wird. In den Versen 1-60 wird in narrativer Rede zunächst mitgeteilt, dass das erlebende Ich sich in einem dunklen Wald verlaufen und sodann vergeblich versucht hat, einen Hügel zu besteigen, um aus dem Wald zu entfliehen. An der Besteigung des Hügels wurde das Ich jedoch von drei wilden Tieren gehindert, einem Panther, einem Löwen und einer Wölfin. Nachdem das Ich den Hügel wieder hinabgestiegen ist, begegnet es Vergil (Inf. I, 61ss.), worauf sich ein Dialog zwischen den beiden Figuren entspinnt. Auffällig ist, dass, nachdem ‘Dante’ voller Furcht den ihm Unbekannten um Erbarmen gebeten hat, dieser in Form einer kurzen Erzählung seine Identität preisgibt, bevor er seinen Dialogpartner direkt anspricht und an ihn die Frage richtet, warum er denn nicht auf den “dilettoso monte” (77) gestiegen, sondern zurückgekehrt sei in die Schrecknisse des Waldes. Schon in dieser ersten längeren direkten Figurenrede des Textes zeigt sich also eine Verbindung verschiedener Darstellungsformen und -funktionen. Zum einen ist die Figurenrede narrativ: Eine Figur berichtet in Form einer Identitätserzählung über sich selbst. Sie sagt, wer sie ist, was sie erlebt und geschaffen hat, wofür sie im Gedächtnis der Nachwelt steht bzw. stehen möchte. Auf der anderen Seite hat die Figurenrede eine appellative Funktion. So sagt ‘Dante’ zu Vergil in einer Mischung aus Latein und Volgare: “Miserere di me” (65), und Vergil fragt ‘Dante’: “Ma tu perché ritorni a tanta noia?” (76) Von Beginn an wird also klar, dass die Figuren im Dialog miteinander einerseits über das Hier und Jetzt sprechen (discours im Sinne von Émile Benveniste), andererseits über etwas Abwesendes, die Vergangenheit (histoire) (Benveniste 1976). Zwei deiktische Systeme überlagern sich somit in der Figurenrede: Das Hier und Jetzt wird markiert durch Rollendeiktika (“qual che tu sii”, 66, oder “Or se’ tu quel Virgilio e quella fonte”, 79) und durch Demonstrativa bzw. Verben mit deiktischer Funktion (“se vuo’ campar d’esto loco selvaggio”, 93, “Vedi la bestia per cu’ io mi volsi”, 88). Wichtig ist, dass die narrative und die appellative Dimension der Figurenrede aufeinander bezogen sind und miteinander interagieren. Die narrative Selbstidentifizierung Vergils ist Voraussetzung für ‘Dantes’ Huldigung und für das Vertrauen, das er zu dem ihm zunächst Unbekannten fasst, den er nicht persönlich, wohl aber als Autor bestens kennt.

Eine weitere wichtige Funktion der Figurenrede ist die Prophezeiung, welche ebenfalls schon bei der ersten Begegnung mit Vergil vorkommt. Eine Prophezeiung ist narratologisch betrachtet eine vorzeitige, in die Zukunft gerichtete Erzählung, etwa wenn Vergil die Ankunft eines “veltro” vorhersagt, der die allegorisch für Geiz stehende Wölfin besiegen werde (Inf. I, 100-111), oder wenn er ‘Dante’ ankündigt, dass dieser durch die drei Jenseitsreiche gehen werde (112-129). Auffällig ist, dass die auf die Zukunft bezogenen Erzählungen eine stark appellative Funktion haben, wie man deutlich an folgender Stelle sieht: “Ond’io per lo tuo me’ penso e discerno / che tu mi segui, e io sarò tua guida, / e trarrotti di qui per luogo etterno, / ove udirai le disperate strida, / vedrai li antichi spiriti dolenti, / che la seconda morte ciascun grida / [...]”[10] (112-117). Erneut sind die appellative und narrative Dimension eng verbunden.

 

(2) Ein zweiter wichtiger Gesichtspunkt – neben der engen Verbindung von narrativer und appellativer Funktion in der Figurenrede – ist der Zusammenhang von szenischer Präsentation und Zeitstruktur der Divina Commedia. Hier lassen sich gewisse Paradoxien erkennen. Ganz zu Beginn, im ersten Canto des Inferno, wird gesagt, das erlebende Ich habe eine ganze Nacht im Zustand der Angst verbracht (Inf. I, 19-21). Dieser zeitliche Hinweis steht im Kontext einer Stelle, in der von den Strahlen der Sonne die Rede ist, die schon den Rücken des Berges erleuchten, welchen der Wanderer sich zu besteigen vornimmt: “[...] e vidi le sue spalle / vestite già de’ raggi del pianeta / che mena dritto altrui per ogne calle.” (16s.)[11] Daraus lässt sich schließen, dass der Wanderer eine Nacht im Wald verbracht hat und nun die Morgensonne aufgeht, was etwas später explizit bestätigt wird, wenn es in V. 37 heißt: “Temp’era dal principio del mattino”.[12] Dieser Hinweis folgt unmittelbar auf die Erwähnung des ersten wilden Tieres, welches ‘Dante’ den Aufstieg auf den Berg verwehrt. Kurz darauf, nachdem er auch von den beiden anderen wilden Tieren behindert worden ist und den Rückzug antreten muss, begegnet er Vergil. Ab V. 65 besteht der Canto fast ausschließlich aus Figurenrede; somit handelt es sich ab hier um zeitdeckendes Erzählen. Die Figurenrede mündet seitens Vergils in die Aufforderung an ‘Dante’, ihm auf dem Weg in die drei Jenseitsreiche zu folgen, was mit dem letzten Vers des ersten Canto auch narrativ bestätigt wird: “Allor si mosse, e io li tenni dietro” (136).[13]

V. 10 des zweiten Canto schließt handlungslogisch unmittelbar an diesen Aufbruch an, wenn das erlebende Ich seinen Führer apostrophiert, um ihm seine Zweifel daran kundzutun, ob es wirklich geeignet sei, so wie die illustren Vorbilder Aeneas und Paulus als noch Lebender ins Jenseitsreich einzudringen. Erstaunlich ist indes, dass unmittelbar zuvor, also am Beginn des zweiten Canto, gesagt wurde, es sei schon Abend: “Lo giorno se n’andava, e l’aere bruno / toglieva li animai che sono in terra / da le fatiche loro […]” (Inf. II, 1-3).[14] Zwischen der im Text durch chronologische Angaben explizit markierten Zeitstruktur und der implizit durch die Darstellungsmodi des Narrativen und des Dramatischen suggerierten Zeitlichkeit besteht offenbar eine Diskrepanz. Unmöglich kann das 70 Verse in Anspruch nehmende Gespräch zwischen Vergil und ‘Dante’ im I. Canto des Inferno einen ganzen Tag gedauert haben.

Es ist zu fragen, wie eine solche paradoxe Zeitstruktur zu interpretieren ist. Ich möchte die Hypothese aufstellen, dass Dante hier die Logik des Narrativen mit der Logik des Szenischen amalgamiert. Auf der Ebene einer Erzählung ist es ja ohne weiteres möglich, Zeitsprünge durch Ellipsen zu produzieren. Auf der Ebene der szenischen Darstellung können Ellipsen ebenfalls vorkommen, zum Beispiel indem durch eine besonders ausgedehnte Figurenrede der Eindruck verfließender Zeit erzeugt wird. Im vorliegenden Fall aber ist das Gespräch zwischen ‘Dante’ und Vergil von überschaubarer Länge, sodass es nicht dafür in Anspruch genommen werden kann, den Ablauf eines ganzen Tages zu verdecken. Der Eindruck einer paradoxen Zeitstruktur stellt sich dadurch ein, dass Dante hier das Verfahren der szenischen Figurenrede mit dem narrativen Verfahren der Ellipsenbildung kombiniert, welches zusätzlich durch die äußere Segmentierung des Textes, also den Übergang vom ersten zum zweiten Canto des Inferno, verstärkt wird.

 

(3) Ein für dramatische Texte typisches Verfahren, welches im zweiten Canto des Inferno zur Anwendung kommt, ist die durch Figurenrede nachgetragene Vorgeschichte. Doch auch dieses dramenspezifische Verfahren verbindet sich mit narrativen Darstellungstechniken. Vergil berichtet ab V. 43 über die Geschichte seines von Beatrice erhaltenen Auftrages, ‘Dante’ zu Hilfe zu eilen. Die Figurenrede beginnt in V. 43 und endet in V. 126, nimmt also den Hauptteil des Canto ein. In dieser Rede aber wird mehrfach andere Figurenrede zitiert: Zunächst berichtet Vergil von seiner Unterredung mit Beatrice und gibt dabei wieder, was sie ihm gesagt hat. Beatrice ihrerseits zitiert, was Lucia im Auftrag einer noch höheren Instanz, vermutlich der Jungfrau Maria, ihr aufgetragen hat. Mit dieser Rede repliziert Vergil auf ‘Dantes’ bange Frage nach der Legitimität seiner Jenseitsreise (10-36). In diesem Teil verbinden sich erneut, wie oben schon gesehen, dialogisch-appellative mit narrativen Elementen, indem Dante zunächst an Vergil appelliert, er möge prüfen, ob ‘Dantes’ “virtù” (11) geeignet sei, eine solche Anstrengung zu meistern. Diese Frage wird nun narrativ begründet, indem ‘Dante’ sich auf Aeneas und den Apostel Paulus als berühmte Jenseitsreisende bezieht. Auch in diesem Teil ist die Struktur dialogisch und zugleich intertextuell, insofern ‘Dante’ auf Vergils Aeneis verweist: “Tu dici che di Silvio il parente, / corruttibile ancora, ad immortale / secolo andò, e fu sensibilmente.” (13-15)[15] und “Per questa andata onde li dai tu vanto” (25).[16] Die Rede setzt sich also aus appellativen und aus narrativen Komponenten zusammen, wobei diese funktional aufeinander bezogen sind. Aus dem narrativen Argument entwickelt ‘Dante’ kontrastiv seinen Zweifel an der Zulässigkeit seiner eigenen Jenseitsreise und er gibt diesen Zweifel dialogisch an seinen Gesprächspartner weiter: “Per che, se del venire io m’abbandono, / temo che la venuta non sia folle: / se’ savio; intendi me’ ch’i’ non ragiono” (34-36).[17] In seiner Antwort auf diesen Appell verbindet Vergil seinerseits Appell und narratives Argument.

 

Die Besonderheit in diesem Redeteil ist etwas, das man häufig in dramatischen Texten findet, nämlich die durch eine der dramatis personae nachgetragene Vorgeschichte der Handlung. Vergils Bericht greift zurück auf den Ausgangspunkt der Handlung, insofern ‘Dantes’ Abkehr vom rechten Weg verknüpft wird mit einem von höchster Stelle kommenden Auftrag zur Rettung des verirrten ‘Dante’. Vergil berichtet hier von der eigenen Entsendung durch Beatrice, die ihrerseits im Auftrag höherer Instanzen handelt, und erklärt somit kausal das scheinbar zufällige Zusammentreffen ‘Dantes’ mit Vergil. Kontingenz wird auf diese Weise in Notwendigkeit verwandelt; es ergibt sich eine lückenlose Kausalkette, die eine Diesseits und Jenseits verbindende Linie voraussetzt, an deren jeweiligen Endpunkten ‘Dante’ und Beatrice sich befinden. Die Vorgeschichte wird hier also nicht, wie im narrativen Text üblich, vom Erzähler vermittelt, sondern wie im dramatischen Text von einer der Figuren in Form einer dialogischen Rede. Diese Rede enthält nun rekursive Strukturen, insofern die Differenz zwischen Erzähler- und Figurenrede in Form eines re-entry in die Rede selbst eingeführt wird.[18] Diese Art Rekursivität ist ein für narrative Texte typisches Verfahren, welches wir etwa in Boccaccios Decameron angewendet finden, wo von einem primären Erzähler eine erste diegetische Ebene erzeugt wird, die der brigata, deren Mitglieder dann zu sekundären Erzählern werden und mittels der von ihnen erzählten Novellen eine zweite diegetische Ebene generieren. Erneut verbinden sich somit im zweiten Canto des Inferno dramatische und narrative Gestaltungselemente auf intrikate Art und Weise. Man kann sagen, der Text ist zugleich narrativ und dramatisch, wobei die narrativen Redeteile die dramatische Interaktion, den appellativen Charakter der Figurenrede, unterstützen oder illustrieren, zugleich aber eine kommunikative Funktion in Bezug auf den Leser haben (Nachtrag der Vorgeschichte).

Die Darstellung der Begegnung zwischen Vergil und Beatrice besteht ihrerseits aus narrativen und dialogisch-appellativen Elementen: Es appellieren beide Sprecher zunächst an den Angesprochenen und schreiben diesem bestimmte Qualitäten zu. So sagt Beatrice zu Vergil: “O anima cortese mantoana, / di cui la fama ancor nel mondo dura / e durerà quanto ’l mondo lontana” (58-60).[19] Damit zitiert sie konzeptuell das, was ‘Dante’ seinerseits bei seiner ersten Begegnung mit Vergil diesem lobend zuspricht, wenn er ihn als “quella fonte / che spandi di parlar si largo fiume” (Inf. I, 79s.)[20] apostrophiert und ihn als “lo mio maestro e ’l mio autore” (85)[21] bezeichnet. Es handelt sich um eine captatio benevolentiae, die der sich anschließenden Bitte Beatrices, Vergil möge dem in Not geratenen ‘Dante’ zu Hilfe eilen, zum Erfolg verhelfen soll.

Was an der Struktur von Beatrices Rede auffällt, ist, dass sie zunächst den Appell an Vergil richtet, diesen dann durch einen narrativen Verweis auf ‘Dantes’ Situation begründet und sich selbst erst in einem dritten Schritt identifizierend vorstellt. Mit Jakobson gesprochen folgen in diesem Teil der Rede drei Sprachfunktionen aufeinander: zunächst die appellative, dann die referentielle und schließlich die expressive Sprachfunktion (Jakobson 1981). Oder anders gesagt: Zunächst steht die zweite Person, d.h. der Adressat der Rede, im Mittelpunkt, dann eine abwesende dritte Person (‘Dante’) und zuletzt die erste Person der Sprecherin. Der Hilfsappell, den Beatrice an Vergil richtet, wird somit doppelt begründet: zum einen durch die Notsituation des abwesenden ‘Dante’ (referentielle Funktion), zum anderen durch den identifizierenden Hinweis auf die Sprecherin und ihre Beweggründe (expressive Funktion). Schließlich stellt sie, um ihrer Bitte noch mehr Nachdruck zu verleihen, Vergil eine Belohnung in Aussicht, indem sie sagt, dass sie ihn gegenüber dem Schöpfer, an dessen Seite sie zurückkehren werde, lobend erwähnen wolle. Vergil bedient sich in seiner Antwort auf Beatrices Frage ebenfalls zunächst der appellativen Sprachfunktion, die sich mit einer lobenden Beschreibung von Beatrice verbindet, und bezieht diese appellative Dimension sogleich auf das Ich des Sprechers: “tanto m’aggrada il tuo comandamento, / che l’ubidir, se già fosse, m’è tardi; / piú non t’è uopo aprirmi il tuo talento.” (79-81)[22]

 

Wir konnten an den untersuchten Beispielen sehen, dass in der Divina Commedia Verfahren narrativer und Verfahren dramatischer Präsentation auf unterschiedliche Art und Weise miteinander verbunden werden. Betrachtet wurden die ersten beiden Canti des Inferno. Im ersten Dialog zwischen ‘Dante’ und Vergil hat die Erzählung eine selbst-identifizierende Funktion, die die Interaktion zwischen den beiden Protagonisten erleichtert. Die Prophezeiung als in die Zukunft gerichtete Erzählung wird angebunden an das Hier und Jetzt, und es sollen sich aus ihr handlungsleitende Konsequenzen auf der Ebene der Interaktion zwischen den Figuren ergeben. Eine komplexere Form der Interaktion zwischen narrativer und dramatischer Präsentation war auf der Ebene der Zeitstruktur zu bemerken, wo sich eine Diskrepanz zwischen der expliziten, auf der narrativen Ebene markierten Chronologie und der impliziten, durch zeitdeckende Darstellung präsupponierten Chronologie ergab. Dies ließ sich interpretieren als paradoxe Amalgamierung des narrativen und des dramatischen Darstellungsmodus. Eine weitere komplexe Relationierung zwischen den beiden Modi wurde im Zusammenhang mit der nachgeholten Erzählung der Vorgeschichte durch Vergil erkennbar. Hier zeigte sich, dass dieses für dramatische Texte charakteristische Verfahren mit einer für narrative Texte typischen Rekursivität der Unterscheidung zwischen Erzähler- und Figurenrede kombiniert wird. Mit diesen Beispielen ist natürlich das Thema längst nicht erschöpft. Es müssten noch andere Formen betrachtet werden, etwa das Lehrgespräch zwischen ‘Dante’ und Vergil (z.B. Inf. III, 72-78), bei dem ‘Dante’ eine Wissensfrage an Vergil stellt und dieser eine sachbezogene Antwort gibt. Ähnliches finden wir später auch bei Beatrice und im Paradiso. Außerdem müssten Dialogsituationen untersucht werden, die mehr als zwei Partner involvieren, z.B. Inf. X (Farinata und Cavalcante).[23] Schließlich müsste man die langen Lehrmonologe der Figuren im Paradiso einer Analyse unterziehen. Ohne dies hier im Einzelnen belegen zu können, möchte ich jedoch sagen, dass die zu Beginn der Commedia eingeführten Elemente und Funktionen im weiteren Verlauf nicht grundlegend geändert werden, sondern dass es zu Rekombinationen und Erweiterungen kommt.

Permalink: https://www.lettereaperte.net/artikel/numero-12014/297

foto: l'immagine riprodotta con una licenza creative-commons, scaricabile su https://commons.wikimedia.org/wiki/Open_Access