Zur Interferenz von narrativen und dramatischen Verfahren in Dantes Commedia
Inwiefern ist Dantes Gedicht eine Komödie?
In der Divina Commedia sind auffällige Interaktionsformen des Narrativen und des Dramatischen erkennbar, deren Untersuchung bisher noch nicht systematisch unternommen wurde. Es soll im Folgenden gezeigt werden, dass die Interferenz dramatischer und narrativer Verfahren sich zugleich als Manifestation typisch mittelalterlicher Kommunikationsformen und als Überschreitung traditioneller Gattungsgrenzen deuten lässt. Was auf dem Spiel steht, ist also sowohl das Zeitgebundene als auch der Innovationscharakter von Dantes Gedicht.
Um diese Problematik zu analysieren, empfiehlt es sich, zunächst über die Gattungszugehörigkeit der Commedia nachzudenken. Man kann sich dieser Frage über den Titel des Werkes nähern, wie es schon der Verfasser der berühmten Cangrande-Epistel tat, eines Briefes, den man mit plausiblen Gründen Dante zuschreibt, ohne mit letzter Sicherheit dessen Autorschaft beweisen zu können.[1] In dieser Epistel schreibt der Verfasser an Cangrande della Scala, den Widmungsträger des Paradiso, hinsichtlich der Bedeutung des Titels Folgendes:
(28) Libri titulus est: “Incipit Comedia Dantis Alagherii, florentini natione, non moribus.” Ad cuius notitiam sciendum est quod comedia dicitur a ‘comos’ villa et ‘oda’ quod est cantus, unde comedia quasi ‘villanus cantus’. (29) Et est comedia genus quoddam poetice narrationis ab omnibus aliis differens. Differt ergo a tragedia in materia per hoc, quod tragedia in principio est admirabilis et quieta, in fine seu exitu est fetida et horribilis; et dicitur propter hoc a ‘tragos’ quod est hircus et ‘oda’ quasi ‘cantus hircinus’, id est fetidus ad modum hirci; ut patet per Senecam in suis tragediis. Comedia vero inchoat asperitatem alicuius rei, sed eius materia prospere terminatur, ut patet per Terentium in suis comediis. [...] (30) Similiter differunt in modo loquendi: elate et sublime tragedia; comedia vero remisse et humiliter [...]. (31) Et per hoc patet quod Comedia dicitur presens opus. Nam si ad materiam respiciamus, a principio horribilis et fetida est, quia Infernus, in fine prospera, desiderabilis et grata, quia Paradisus; ad modum loquendi, remissus est modus et humilis, quia locutio vulgaris in qua et muliercule comunicant. (Epist. XIII, 28-31, in: Alighieri 1993, 12-14)
(28) Der Titel des Buches lautet: “Es beginnt die Komödie von Dante Alighieri, einem Florentiner von Geburt, aber nicht den Sitten nach.” Um diesen Titel zu verstehen, muss man wissen, dass sich der Begriff Komödie ableitet von ‘comos’, Dorf, und von ‘oda’, was Gesang heißt, sodass Komödie soviel wie ‘ländlicher Gesang’ bedeutet. (29) Und die Komödie ist eine von allen anderen sich unterscheidende Gattung poetischer Erzählung. Sie unterscheidet sich im Gegenstand von der Tragödie darin, dass die Tragödie zu Beginn bewunderungswürdig und ruhig ist, am Ende bzw. Schluss jedoch stinkend und schrecklich; daher wird sie Tragödie genannt, von ‘tragos’, was Bock bedeutet, und von ‘oda’, also ‘Bocksgesang’, das heißt stinkend wie ein Bock, wie uns dies in Senecas Tragödien offenkundig wird. Die Komödie dagegen beginnt mit einer bedrohlichen Situation, aber ihre Handlung endet glücklich, wie uns dies in den Komödien des Terenz offenbar wird. [...] (30) Ebenso unterscheiden sie sich in der Sprechweise: Diese ist in der Tragödie hoch und erhaben, in der Komödie hingegen nachlässig und bescheiden [...]. (31) Und daher ist klar, weshalb das vorliegende Werk als Komödie bezeichnet wird. Denn wenn wir den Gegenstand betrachten, so ist dieser zu Beginn schrecklich und stinkend, weil es sich um die Hölle handelt, am Schluss aber glücklich, wünschenswert und willkommen, weil es um das Paradies geht; halten wir uns an die Sprechweise, so ist diese nachlässig und bescheiden, weil das Werk sich der Volkssprache bedient, in der sich auch die Weiblein unterhalten. (Übers. T.K.)
In diesem Passus wird die Gattung der Komödie durch zwei Kriterien definiert: zum einen durch den Gegenstand bzw. den Inhalt (“materia”) und zum anderen durch den Stil bzw. die sprachliche Darstellungsweise (“modus loquendi”). Die inhaltliche Bestimmung ist sehr abstrakt: Kontrastiv und komplementär zu der vom Guten zum Schlechten sich wendenden Tragödie verläuft die Handlung in der Komödie vom Schlechten zum Guten. Bei der sprachlichen Gestaltung, so das zweite Kriterium, greift die Komödie im Gegensatz zu der im erhabenen Stil gehaltenen Tragödie auf den niederen Stil zurück. Man muss sich nun die Frage stellen, inwiefern eine auf diesen beiden Kriterien (“materia” und “modus loquendi”) basierende Gattungsdefinition hinreichend ist, beziehungsweise falls nicht, wofür diese Gattungsbestimmung dann als Symptom gedeutet werden kann.
Aus literaturwissenschaftlicher Sicht nämlich fehlt Dantes Gattungsbestimmung ein entscheidendes Merkmal, das sogenannte Redekriterium, welches ja schon in der Antike bei Aristoteles bedacht wird.[2] Narrative und dramatische Texte unterscheiden sich durch die Vermittlungsinstanz, d.h. im dramatischen Text sprechen die Figuren für sich selbst und führen die Handlung auf der Bühne direkt vor Augen, während im narrativen Text der Erzähler die Handlung und die Rede der Figuren vermittelt. Auf dieses Kriterium geht Dantes Definition überhaupt nicht ein, und man muss sich fragen, warum sie das nicht tut, d.h. warum Dante für einen Text, der ganz offensichtlich gemäß dem Redekriterium kein dramatischer Text ist, weil er einen Erzähler hat, eine für dramatische Texte anzuwendende Gattungsbezeichnung wählt.[3] Die Wahl des Gattungsbegriffes Commedia lässt sich in zweifacher Weise als Symptom deuten: Zum einen verweist dieser Gattungsbegriff auf eine Leerstelle, insofern Dantes Werk zum Zeitpunkt seiner Entstehung aufgrund seines radikal innovativen Charakters gattungspoetisch überhaupt nicht eingeordnet werden kann. Die Wahl des Titels wäre dementsprechend Ausdruck einer terminologischen Verlegenheit und würde – bewusst oder unbewusst – den innovativen Charakter des Textes markieren.[4] Zum zweiten ist die Verwischung der Grenze zwischen dem narrativen und dem dramatischen Text, die sich in dieser Titelwahl ja anzudeuten scheint, ein Symptom für die Eigenheiten des mittelalterlichen Kommunikationssystems. Während wir es in der Moderne gewohnt sind zu unterscheiden zwischen der stillen Lektüre eines narrativen Textes und der Anwesenheit bei einer szenischen Aufführung, sind im Mittelalter die Bedingungen anders gewesen: So wurden in dieser Zeit narrative Texte in der Volkssprache üblicherweise im Rahmen einer Performanz vorgetragen und rezipiert, d.h. sie waren an eine Aufführungssituation geknüpft und ihnen war somit stets schon ein Element von Theatralität eigen. Narrativität in Reinform, so wie wir sie unter den Bedingungen des Buchdrucks kennen, ist im Mittelalter kaum vorhanden; die einsame Lektüre eines Erzähltextes ist eine Rezeptionsform, die nur unter besonderen, seltenen Bedingungen möglich war, allein schon deshalb, weil es kaum lesekundige Menschen gab und weil die Anzahl vorhandener Manuskripte sehr gering war.
Blicken wir auf moderne Definitionen der Gattungszugehörigkeit von Dantes Hauptwerk, so stellen wir fest, dass die schon für Dante und seine ersten Leser vorhandenen Schwierigkeiten der Einordnung fortbestehen. Benedetto Croce bezeichnete die Commedia als “ethisch-politisch-theologischen Roman” (Hausmann 1988, 7). Erich Auerbach schreibt im Kapitel “Farinata und Cavalcante” seines Buches Mimesis:
Die Komödie ist, unter anderem, ein enzyklopädisches Lehrgedicht, in dem die physikalisch-kosmologische, die ethische und die geschichtlich-politische Weltordnung insgesamt vorgestellt wird; sie ist ferner ein wirklichkeitsnachahmendes Kunstwerk, in der [sic] alle denkbaren Bezirke des Wirklichen auftreten: Vergangenheit und Gegenwart, erhabene Größe und verächtliche Gemeinheit, Geschichte und Sage, Tragik und Komik, Mensch und Landschaft; sie ist schließlich die Entwicklungs- und Heilsgeschichte eines einzelnen Menschen, Dantes, und als solche eine Figuration der Heilsgeschichte der Menschheit überhaupt. (Auerbach 1982, 181)
Enzyklopädisches Lehrgedicht, wirklichkeitsnachahmendes Kunstwerk, Entwicklungs- und Heilsgeschichte; oder noch stärker reduziert: Gedicht, Kunstwerk und Geschichte – so lauten die Gattungszuschreibungen, die Auerbach vornimmt. Was er an dieser Stelle jedoch unterlässt, ist zu erläutern, wie diese Eigenschaften sich zueinander verhalten, in welchem hierarchischen Verhältnis sie zueinander stehen. Die Divina Commedia ist ja keineswegs ein Text, in dem die genannten Gattungskomponenten additiv und unverbunden nebeneinander stehen, sondern es handelt sich auf der hierarchisch höchsten Ebene um einen Erzähltext in Ich-Form.
Das erzählende Ich berichtet über ein Erlebnis, das es zu einem früheren Zeitpunkt gehabt hat, nämlich die Jenseitswanderung. Es erzählt also eine Geschichte, die in der Tat, wie Auerbach sagt, als Entwicklungs- und Heilsgeschichte zu lesen ist, und zwar auf zwei Ebenen: erstens auf der Ebene des erlebenden Ichs und zweitens auf der Ebene der ganzen Menschheit, für die dieses Ich eine Stellvertreterfunktion beansprucht. Die erzählte Geschichte kann man mit strukturalistischen Mitteln folgendermaßen analysieren: (1) Das erlebende Ich ist vom rechten Weg abgekommen (Situation des Mangels oder der Schädigung, die im Text durch den dunklen Wald und die wilden Tiere markiert wird). (2) Das Ich muss einen langen Umweg machen, um den rechten Weg wiederzufinden (vom ursprünglichen Mangel ausgelöste Handlungssequenz mit dem Ziel der Überwindung des Mangels). (3) Das verlorene Heil wird durch die Wiederbegegnung mit Beatrice und schließlich die Schau Gottes wiedererlangt (Restitution des ursprünglichen Gutes/Kompensation des Mangels).
Dieser individuelle Weg zum Heil vollzieht sich als Lernprozess und als Bußritual. Der Lernprozess und das Bußritual sind gegliedert in verschiedene Stationen, die durch die physische Beschaffenheit der Jenseitswelt im ganz konkret räumlichen Sinne vorgegeben werden, d.h. der Wanderer durchschreitet die drei Jenseitsreiche, indem er in Begleitung von Vergil in den Trichter des Inferno hinabsteigt und die verschiedenen Kreise und Streifen der Hölle durchläuft bis hin zum Zentrum des Bösen, Luzifer; indem er sodann, nach Durchquerung der Erdkugel, auf der südlichen Hemisphäre den Läuterungsberg besteigt, der seinerseits wieder in verschiedene Kreise gegliedert ist und auf dessen Gipfel sich das irdische Paradies befindet. Im Purgatorio wird der Wanderer selbst von seinen Sünden gereinigt (Purg. I, 94 ss.: rituelle Waschung; Purg. IX, 94 ss.: sieben P, die für die sieben Hauptsünden stehen). Im irdischen Paradies angekommen, wird ‘Dante’ von Beatrice in Empfang genommen (Purg. XXX), die ihn fortan als Führerin begleitet und mit ihm schließlich in das himmlische Paradies aufsteigt, wo als dritter Führer Bernhard von Clairvaux den Stab übernimmt (Par. XXXI) und ‘Dante’ bis zum Zentrum des Universums führt, wo Gott geschaut werden kann.
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