Krise und Erneuerung. Die faktuale Offensive des Fiktionalen
Faktuale Fiktionen
Loriano Macchiavelli, Strage (1990/2010)
In einem Wartesaal des Bahnhofs von Bologna wird 1980 am ersten August-Samstag um 10.25 Uhr eine Bombe gezündet, die 85 Menschen das Leben und über 200 weiteren die Gesundheit kostet. Der Anschlag in Bologna ist bereits das vierte der großen Bombenattentate, die zwischen 1969 und 1984 Italien erschüttern. Diese Attentate sind Teil der strategia della tensione, einer politischen Strategie, die Versuche rechter Interessengruppen im politischen Leben Italiens bezeichnet, die Situation im Lande zu destabilisieren. Italienische Geheimdienstkreise und Geheimlogen veranlassen unter Zuhilfenahme rechtsterroristischer und/oder krimineller Gruppen bzw. der Mafia Putschversuche, Terroranschläge und Morde, die ein Klima der Angst erzeugen sollen, um extreme polizeistaatliche Maßnahmen und damit eine rechtskonservative Wende im Lande zu provozieren. Die Ermittlungen zur strage di Bologna werden, wie im Falle der anderen stragi auch, durch das Eingreifen von Geheimdiensten in Form von Falschinformationen, Sabotagemaßnahmen, Ablenkungsmanövern und Zeugenbeeinflussung extrem behindert. Dies mündet 1985/1986 in Haftbefehle gegen Geheimdienstarbeiter und die Führung der Loge P2 – wegen Verschwörung gegen die Demokratie und Behinderung der Ermittlungen. In den folgenden Prozessen werden zwar einige Verurteilungen faschistischer Täter rechtskräftig, die Auftraggeber und strategischen Organisatoren bleiben aber bis heute im Dunkeln.
Der Bologneser Autor Loriano Macchiavelli (*1934), ursprünglich ein Dramatiker, der seit 1974 mit Kriminalromanen um den Carabiniere Sarti Antonio großen Erfolg hat, verfasst Ende der achtziger Jahre für den Verlag Rizzoli drei fiktionale Auftragswerke zu einschneidenden Vorkommnissen der jüngeren italienischen Geschichte. Strage erscheint 1990 als zweiter Text der Trilogie unter dem Pseudonym Jules Quicher und entfaltet seine histoire rund um reale Ermittlungsergebnisse, die sich insbesondere in der Figurenkonstellation und der Deutung der strage niederschlagen. Die Neuauflage von 2010 erhält deshalb paratextuelle Augmentationen beigesellt: zwei kurze Vorworte von Macchiavelli und Libero Mancuso, einem in die Ermittlungen rund um die depistaggi der strage di Bologna einbegriffenen Richter. Macchiavellis Vorbemerkung mit dem Titel “Breve storia, a uso del lettore, di questo romanzo”(Macchiavelli 2012, V), expliziert die referentielle Schlagkraft, die sein fiktionaler Text durch die faktualen Anker der histoire 1990 gewonnen hatte. Der fiktionale Text interpretiert reale Details offensichtlich so überzeugend, dass einer der Angeklagten des 1990 laufenden Prozesses zur strage di Bologna wegen der Verletzung seiner Persönlichkeitsrechte den sofortigen Verkaufstop durchsetzen kann: Strage verschwand nach nur sieben Tagen aus den Buchhandlungen, der reale Autor Macchiavelli musste sich einem Gerichtsverfahren stellen: “e solo perché una storia del tutto inventata, anche se fortemente radicata nella realtà, aveva dato piú fastidio di un’inchiesta giornalistica. […] In fondo, un romanzo è solo un romanzo” (Macchiavelli 2012, VI). Damit ist endgültig die liminale Austauschzone zwischen Fiktion und realer Realität erreicht, die realen Folgen des transformationellen Prinzips der Fiktionalisierung also, dessen ko-real beförderte Rückübertragung den Roman in der realen Realität wie einen faktualen Text juristischer Prüfung aussetzt.
Der Erzähltext selbst ist in fünf anachronisch platzierte Teile unterteilt. Die Parte prima: La Strage erstreckt sich über die Tage rund um den Anschlag und folgt dabei drei zentralen Figuren, die allesamt in den Anschlag verwickelt sind: Jules Quicher, ein ehemaliger französischer Geheimagent und namensgleich mit dem Autor-Pseudonym auf dem Cover der Erstveröffentlichung, Ansaldo Falcione, ein sizilianischer Wissenschaftler auf der europäischen Raketenbasis in Guyana, der den Satelliten-Zünder zur Bombe von Bologna liefert, schließlich die 25-jährige Claudia Patroni, die sich am Rande linksterroristischer Milieus bewegt. Jules und Claudia werden nach dem Anschlag vom Geheimdienstgeneral Dalla Vita rekrutiert, um Hintergründe der Tat aufzudecken. Die Parte seconda: 1970, preparando la strage stellt zwei Killer vor: Vora, eigentlich Gabriele Voratore, Mitglied der römischen Banda della Magliana, und Francesca Dirusso, eine Mafiosa, die sich 1970 begegnen und ein Team bilden, das schließlich auf Seiten der Hintermänner des Anschlags agiert, dirigiert von Dottor Rigolari, einem Freimaurer-Großmeister in politischer Mission. Die Parte terza: 1980, dopo la strage führt die Ereignisse nach dem Anschlag vom zweiten August 1980 fort, Parte quarta: Le indagini verbindet sukzessive die Fäden, um sie in der Parte quinta: I finali wieder voneinander zu lösen. Der Text umfasst 579 Seite, ist intern fokalisiert, routiniert abgefasst und lanciert schließlich eine der gängigen Deutungsvarianten der strage: die Detonation der Bombe am zweiten August in Bologna war ein Versehen, der eigentliche Anschlag sollte erst am vierten August angelegentlich der Gedenkfeierlichkeiten zur strage del Italicus in der Nähe von Bologna erfolgen, zu welchen die gesamte italienische Staatsführung erwartet wurde. Geliefert wird ein komplexer, narrativ vielfältig fabulierender Thriller, der gerade von seiner Referentialität – und deren realer bzw. juristischer Leere lebt. Mit fiktionalen Mitteln werden so allemal Defizite des realen Umgangs mit Ereignissen der realen Realität indiziert, wobei der Roman keine Aufklärung versucht: also mit der Konstruktion seiner sich selbst genügenden fiktionalen Welt die reale Realität lediglich peripher, aber eben juristisch relevant, faktual touchiert.
Patrick Fogli, Il tempo infranto (2008) und Fogli/Pinotti, Non voglio il silenzio. Il romanzo delle stragi (2011)
Ein weiterer Bologneser Autor, Patrick Fogli (*1971), der seit 2006 erfolgreiche Thriller veröffentlicht, legt 2008 mit Il tempo infranto seinerseits einen Roman zur strage di Bologna vor. Bei Fogli wird die strage über eine tragische Familiengeschichte aufgerollt, die im Jahre 2007 den jungen Bankangestellten Francesco Mazzanti durch einen Banküberfall in die Geschehnisse rund um den Anschlag involviert. Mazzanti deckt peu è peu die Geschichte der eigenen Familie auf, die über den Vater untrennbar mit der strage verknüpft ist. Das zentrale Augenmerk der detailliert recherchierten, von intensiver und komplexer Referentialität durchzogenen 650seitigen histoire gilt dabei den Machenschaften der involvierten Freimaurerlogen und Geheimdienste, insbesondere aber den Rechtsterroristen der Nuclei Armati Rivoluzionari sowie den Alt- und Neufaschisten an Knotenpunkten der Macht.
Non voglio il silenzio. Il romanzo delle stragi von Patrick Fogli und dem Journalisten Ferruccio Pinotti (*1959) erscheint im Jahr 2011 und geht in Sachen Referentialität noch etwas weiter. Der Text umkreist die Ermordung Paolo Borsellinos 1992, als tangentopoli gerade das Ende der sogenannten Ersten Republik einläutet und in Sizilien gleich drei prominente Morde geschehen. Am 12. März des Jahres tötet die Mafia den DC-Politiker Salvo Lima, einen engen Gefolgsmann Andreottis. Am 23. Mai jagt die Mafia den Untersuchungsrichter Giovanni Falcone bei Palermo zusammen mit seiner Ehefrau und drei Männern der Eskorte in die Luft. Falcone hatte während der achtziger Jahre zusammen mit Borsellino und dem Anti-Mafia-Pool die Voraussetzungen für den maxiprocesso erarbeitet, den ersten erfolgreichen Mafia-Großprozess 1986/87. Die Ermordung Borsellinos, der seit 1986 Oberstaatsanwalt in Marsala ist, folgt wenig später: am 19. Juli, vor dem Haus seiner Mutter in Palermo, wo er zusammen mit fünf Personen seiner Eskorte durch eine Autobombe getötet wird. Rund um diesen letzten Anschlag verdichten sich rasch Gerüchte über eine Beteiligung der Geheimdienste. Ende 2012 werden schließlich Ermittlungen aufgenommen, die mögliche Absprachen zwischen Staat und Mafia betreffen und bislang zahlreiche Verhaftungen rund um die Ermordung Falcones und Borsellinos zur Folge hatten.
Die Zusammenarbeit des Thriller-Autors Fogli und des Journalisten Pinotti lässt von Anfang an ein stark faktuales Gepräge in histoire- wie discours-Ebene einfließen, das sich in die Figurenzeichnung fortsetzt. Der namenlose Protagonist ist wie sein Vater Adriano und seine Ehefrau Elena Journalist, hat diesen Beruf aber aufgegeben, seit Elena 1994 ermordet wurde. Elena, “alla ricerca della verità, a tutti i costi” (Fogli/Pinotti 2011, 21), hatte mit seinem Vater rund um die Machenschaften der sizilianischen Mafia in Norditalien und die Ermordung Borsellinos recherchiert – wobei Elena offenkundig den Interessen der Akteure zwischen Politik, Geheimdiensten und Mafia zu nah gekommen war. Die Autoren ziehen die histoire als Mailänder Familiengeschichte auf: die Tochter Giulia entschwindet in die USA, nachdem der Vater die Recherchen seiner toten Frau 2003 wieder aufnimmt; Adriano unterstützt seinen Sohn dabei und dient als empirisches Verbindungsglied zu den Ereignissen der Jahre 1992-1994; ein enger Freund des Protagonisten, Daniele, ein Staatsanwalt, wird in die Recherchen des Protagonisten hineingezogen, die er ebenso wie der Vater nicht überleben wird. Die histoire ist demzufolge als Aufklärungshandlung auf zwei Zeitebenen angelegt, die immer wieder alternieren – wobei der Ablauf der histoire durch die anachronische Reihung der relativ kurzen Handlungsabschnitte sowie die schiere Unzahl an Recherche-Details merklich verunklart wird. Auch auf discours-Ebene zeigt sich ein ähnliches Bild: Die wenigen Großkapitel des 530-Seiten-Textes finden sich als Serialisierung kurzer Sinneinheiten ausgestaltet, die durch histoire-Schnitte und/oder Wechsel der Figuren- oder Erzählperspektive segmentiert werden – was nicht zuletzt der sinnhaften Koordination der histoire-Passagen auf Rezipientenseite entgegenarbeitet.
Der namenlose Ich-Erzähler führt sich zu Beginn des Textes folgendermaßen ein: “Racconterò una storia. In parte l’ho vissuta e in parte l’ho ricostruita. La racconterò perché qualcuno pensa che non vada raccontata. La racconterò perché non ho più scelta. La racconterò per tentare di salvarmi la vita. La racconterò perché nel paese delle storie dimenticate, quello che ho da dire non ha mai avuto diritto di cittadinanza” (Fogli/Pinotti 2011, 10). Die derart als authentisch offerierte, faktual-fiktionale Konstruktion einer alternativen Realität rund um reale Ereignisse, die staatlicherseits abgeschattet verharren, diskutiert also unablässig reale Sachverhalte von hoher politischer Brisanz und hohem Verschwörungspotential. “L’Italia […] è una Repubblica fondata sui segreti, sulle bombe, sulla collusione, sul depistaggio” (Fogli/Pinotti 2011, 499), heißt es denn auch gegen Ende des Textes aus dem Mund des Staatsanwalts. Konsequenter Weise werden und wurden, so erfährt man zu Ende des Textes, auch die hehren Aufklärer – der Protagonist, seine Frau und sein Vater – schon immer durch Geheimdienste durch die Geschehnisse bewegt. Eine Agentin, die den Decknamen Clara trägt und bereits in den Neunzigern Elena und Adriano begleitete, legt das schließlich offen: “E, mi creda, nessuno dimostrerà mai questa storia. Se abiti una casa non distruggi le fondamenta con le tue mani. Per questo abbiamo tentato con Adriano. E quando è stato chiaro che non lo avrebbe fatto, con Elena. E adesso con lei. L’unica possibilità perché il muro crolli è che la storia si sappia. Che giri, che cammini sulle sue gambe” (Fogli/Pinotti 2011, 524). So ist es tatsächlich der Ich-Sprecher, der, gleichwohl als Marionette, das Schweigen endlich bricht.
Giancarlo De Cataldo, Nelle mani giuste (2007)
Ein kurzer Blick auf Giancarlo De Cataldos (*1956) Nelle mani giuste (2007) soll dieses knappe Panorama beschließen. Mit De Cataldo steht wiederum ein inzwischen renommierter Autor im Fokus, der zum einen durch seine langjährige Tätigkeit als Richter (heute an der Corte d’assise in Rom) exklusiven Einblick in politisch brisante Ermittlungsverfahren der hier verhandelten Größenordnungen – etwa zur römischen Banda della Magliana – gewinnen konnte, zum anderen seit seiner höchst erfolgreichen Fiktionalisierung des Wirkens dieser Gruppierung in Romanzo criminale (2002) als einer der renommiertesten italienischen Autoren faktual verankerter Verbrechensliteratur zu gelten hat. De Cataldos Banda della Magliana-Stoff wurde breits 2005 von Michele Placido erfolgreich verfilmt und schließlich in einer ihrerseits äußerst populären RAI-Fernsehserie fortgeführt.
Nelle mani giuste wiederum beschäftigt sich mit Ereignissen, die unmittelbar im Anschluss an die Ermordung Limas, Falcones und Borsellinos im Jahre 1992 anzusiedeln sind. Im Mittelpunkt steht eine Serie von Bombenattentaten im Jahr 1993, die parallel zu den anhaltenden Mailänder Mani pulite-Untersuchungen das Land in Atem halten. Während die Mailänder Staatsanwälte im Begriff stehen, das dichte Korruptionsnetz der klientelistischen Verflechtung von Parteien, Staat, Wirtschaft und Gesellschaft zu zerschlagen, versuchen ihrerseits eine Reihe von mächtigen Interessengruppen, aus dem entstandenen Machtvakuum im Staat politischen Vorteil zu ziehen. Die Roman-Handlung rund um die Bomben des Jahres 1993 umfasst also die Phase unmittelbar vor dem politischen Aufstieg Berlusconis, dessen Kür zum Kandidaten der rechten Interessengruppen bzw. Geheimbünde im Roman eine nicht unwichtige Rolle spielt.
Bei den Bombenanschlägen handelt es sich um insgesamt fünf von der Mafia ausgeführte Attentate, die relativ zügig seit 1996 in einem Prozess vor der Corte d’assise in Florenz verhandelt werden. Das Urteil gegen die 26 Angeklagten (darunter Bernardo Provenzano und Totò Riina, dessen Verfahren zusammen mit demjenigen eines weiteren Angeklagten abgetrennt und 1999/2000 durchgeführt wurde) ergeht im Juni 1998. Es werden vierzehn lebenslange Freiheitsstrafen und zehn weitere Gefängnisstrafen gegen Mafiosi verhängt, deren Täterschaft nicht allein die Bombenattentate, sondern zugleich Terrorismus und Verschwörung gegen die Verfassung einschließt. Riina und Graviano werden im abgesonderten Verfahren ebenfalls zu lebenslanger Haft verurteilt. Ein Verfahren gegen den Mafioso Francesco Tagliavia wegen des Attentates in Florenz kommt erst 2011 zum Abschluss, ein weiteres gegen Cosimo D’Amato wegen der Beschaffung des Sprengstoffes 2013. Zwischenzeitige Beschuldigungen gegen Berlusconi und Marcello Dell’Utri bezüglich der Auftragsvergabe wurden bislang nicht weiter verfolgt, weitere Verdachtsmomente gegen Hintermänner in Geheimdiensten und Geheimbünden sind bis heute nicht geklärt. Die Anschlagsserie umfasst folgende Stationen: (1) Roma, Via Fauro, 14. Mai 1993, Autobombe: Sachschäden an Gebäuden und Fahrzeugen, über 30 Verletzte; (2) Firenze, Via die Georgofili, 27 Mai 1993, Autobombe: fünf Tote und ca. 35 Verletzte, darunter einige schwer, gravierende Zerstörungen an umliegenden Gebäuden, darunter an Gebäude und Bestand der Uffizien; (3) Milano, Via Palestro, 27 Juli 1993, Autobombe: 5 Tote, Verletzte, Sachschäden insbesondere durch eine zweite Explosion in einer in Mitleidenschaft gezogenen Tankstelle; (4) Roma, Piazza San Giovanni in Laterano, 28 Juli 1993, Autobombe: gravierende Sachschäden an umstehenden Gebäuden; (5) Roma, Via del Velabro, 28. Juli 1993, Autobombe: gravierende Sachschäden an umliegenden Gebäuden und Autos; ein geplanter sechster Anschlag schlug fehl: (6) Rom, stadio Olimpico, Autobombe: geplante Zündung während eines Fußballspiels nicht durchgeführt.
De Cataldos Text lässt die 1992/1993 zunehmend unübersichtliche Interessenlage in Italien in einem vielgestaltigen Geflecht von Figuren und Interessen aufscheinen, dessen stärkste Akteure dem Fernziel einer rechtstotalitären Transformation Italiens zuarbeiten. Diese Strategie findet sich im – im Text ausschnittsweise zitierten – Piano di rinascita democratica logistisch skizziert, der 1982 im Umkreis des P2-Großmeister Licio Gelli gefunden worden war. De Cataldos Roman ist unterteilt in einen kurzen Prologo, der auf den Sommer 1982 terminiert wird, und einen Hauptteil, der den Titel Dieci anni dopo. Autunno 1992 trägt. Der intern fokalisierte Text zieht über 336 Seiten eine Handlungsfiguration auf, deren Akteure aus ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen stammen. Der bereits aus dem Romanzo criminale bekannte polizeiliche Ermittler Nicola Scialoja ist inzwischen zum Leiter eines der konkurrierenden italienischen Geheimdienste aufgestiegen, nachdem sein ehemaliger Chef, der ominöse, in Verschwörungserzählungen seit Jahrzehnten vielbeschworene il Vecchio, verstorben war. Mit von der Partie ist auch Scialojas Geliebte aus dem Romanzo criminale, Patrizia, die im aktuellen Text gezwungen wird, Scialoja auszuspionieren. Hinzu kommt der zentrale Gegenspieler Scialojas: Stalin Rossetti, ehemaliger Gladio-Kämpfer und inzwischen Anführer einer noch von il Vecchio eingesetzten Geheimdienstspezialeinheit, der allerdings den Posten Scialojas beansprucht und hierfür von der Mafia bis zu Scialojas Geliebter alles in Bewegung setzt. Um diesen Figurennukleus sammeln sich weitere Geheimdienst- und Geheimlogenzugehörige, die aus unterschiedlichen Gesellschaftsbereichen und der Politik stammen und im Anschluss an die Morde von 1992 die sizilianische Mafia durch Pakte in die immer undurchsichtigeren, partiell von persönlichen Interessen getragenen politischen Machtspiele einbeziehen. Hinzu kommen einige Figuren aus der darbenden Großindustrie, die ihrerseits Mafiakontakte pflegen oder in solche getrieben werden: De Cataldo ist bemüht, das enge Geflecht unterschiedlichster Interessen innerhalb des Klientelstaates durch Personalisierungen in ihrer tödlichen Summierung sichtbar zu machen. Die vielfältigen, miteinander verketteten Handlungs- und Interessenstränge werden dabei durch Referenzen auf reale Personen wie den im politischen Chaos des Jahres 1993 aufgebauten Silvio Berlusconi immer wieder faktual geerdet:
Accadde quando un fratello massone, dopo il convenzionale scambio di saluti, gli chiese se fosse al corrente di quanto stava succedendo a Milano.
- E cioè?
- Piú che Milano dovrei dire Arcore...
- Continuo a non capire.
- Gira voce che Berlusconi intenda scendere in campo...
- Scendere in campo?
- Non ti vedo molto lucido, Carù. Scendere in campo... entrare in politica... fare un partito, insomma!
- E con chi lo farà, ‘sto partito? Con Mike Buongiorno e quelli di Drive In? (193)
[…]
Berlusconi aveva fascino. Carisma. Spregiudicatezza. Chi lo conosceva ne vantava la simpatia umana irresistibile. Era un anticomunista tenace. Era convinto che la Sinistra gliel’avesse giurata. La vittoria dei rossi per lui poteva significare la rovina. […]
- Oh, Berlusconi! È così... così perfettamente italiano!
L’Italia.
L’Italia cercava un padrone.
L’Italia cercava un padrone italiano.
Berlusconi era il più italiano di tutti. (De Cataldo 2007, 194)
Fluchtpunkt der Handlungsepisoden sind schließlich die genannten Autobombenanschläge, die, wie den Leserinnen und Lesern des Jahres 2007 hinlänglich bekannt ist, keine unmittelbaren Auswirkungen im Sinne eines Rechtsputsches hatten, immerhin aber dem tatsächlichen Wahlerfolg Berlusconis 1994 und damit einer Mitte-Rechts-Faschisten-Koalition präludierten. Im Text verlieren jedoch auch eine Reihe von Handlungsträgern im Verlaufe der Ereignisse ihr Leben – darunter Patrizia und Stalin Rossetti. Scialoja hingegen wird demissionieren und in eine bislang unbekannte Zukunft abtauchen.
De Cataldos Bearbeitung der Anschlagsserie des Jahres 1993 ist sicherlich in fiktionaler wie in ästhetischer Hinsicht weniger komplex angelegt, als das in den vorgenannten Beispielen der Fall ist, das Spiel mit Fiktionalität und Faktualität erreicht längst nicht die Intensität der oben vorgestellten Texte. Auch De Cataldo aber jongliert durchaus mit den Potentialen der Hybridisierung, etwa wenn er in der vorangestellten Avvertenza per il lettore eben jene denotiert. In topisch vorbildlicher Manier, die noch Manzoni anklingen lässt, heißt es dort einleitend: “Questo romanzo non tradisce la Storia, la interpreta rappresentando eventi reali sotto il segno della Metafora” (De Cataldo 2007, 2). Nach knapper Nennung der Quellen und Gesprächspartner, juristischen Richtigstellungen und kurzer Danksagung klingt die Avvertenza schließlich in einem Sinne aus, der seinerseits auf die theoretischen Diskussionen seit Manzoni ausgreift: “D’altronde, ho sempre pensato, con Tolstoj, che la Storia sarebbe una cosa bella, se solo fosse vera. E questo, in definitiva, è solo un romanzo” (De Cataldo 2007, 2).
Permalink: https://www.lettereaperte.net/artikel/ausgabe-1-2014/142