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Kino-Stimmen. Gideon Bachmann und seine Gespräche mit Filmpersönlichkeiten

in Erinnerung an Jonas Mekas (1922-2019)

Weltempfänger

Sommer 2015: Wer Gideon Bachmann in seinem Karlsruher Büro besucht, muss auf gewisse Gewohnheiten Rücksicht nehmen. Jeden Nachmittag um 15 Uhr hört Bachmann Radio-Nachrichten, mal auf Englisch, mal auf Französisch oder Hebräisch. “Es sind meistens schlechte Nachrichten”, sagt der 88-jährige. “Gute Nachrichten werden ja selten ausgestrahlt.”

Bachmann hört schon seit ganzes Leben lang Radio. Der kleine Hans-Werner, wie er damals hieß, baute sich in seinem Elternhaus in Heilbronn einen Detektor: Das einfache Empfangsgerät bestand aus einer Spule, einem Kondensator, einem Kristall sowie einem Kopfhörer und brauchte keine Batterie. Damit ließen sich mit etwas Glück ein paar Sender empfangen. Noch bevor das Deutsche Reich seinen jüdischen Bürgern verbot, ein Radio zu besitzen, ging der 9-jährige Hans-Werner Bachmann 1936 mit seiner Familie nach Palästina. Das war keine leichte Entscheidung. Bachmanns Vater wäre lieber in Deutschland geblieben. Er verstand nicht, was die Tatsache, dass er Jude ist, mit seiner Arbeit als Kaufmann zu tun haben sollte. Hans-Werner hätte gerne, wie seine Freunde, auch den Hitlergruß gezeigt. Seine Mutter Clara bestand aber auf der Ausreise und hatte kurzerhand in Köln Visa für das damalige britische Mandatsgebiet Palästina erworben.

 

Abb. 1. Gideon Bachmann (1927–2016) mit seiner Märklin-Eisenbahn, Tel Aviv 1937

 

Lebenslauf

Als Bachmann Deutschland verließ, nahm er seine Spielzeugeisenbahn mit, die ihn von da an immer begleitete und dabei immer größer wurde. Heute gehört sie zu den bedeutendsten Sammlungen in Deutschland. Nach Stationen in New York, Rom und London steht sie seit 1995 in seiner Wohnung in Karlsruhe. Dort liegen in den Regalen neben Schachteln mit Schienen, Weichen und Signalen auch unzählige Tonbandspulen mit Stimmen von Federico Fellini, Pier Paolo Pasolini, Jean Seberg, Lotte Eisner, Rainer Werner Fassbinder und hunderten weiteren Menschen aus dem Filmleben, mit denen Bachmann gesprochen hat: Regisseuren, Schauspielern, Filmhistorikern, Drehbuchautoren, Produzenten.[1]

Die Tonbänder sind nur ein Teil von Bachmanns wechselvoller Biografie, die er schon so oft erzählt hat, dass er sich dabei langweilt, wie der Besucher des Jahres 2015 spürt. Er will nicht noch einmal erzählen, wie er in Palästina in einer Kooperative die Landwirtschaft erlernen musste; wie er anfing, erst mit einer einfachen Brownie-Box-Kamera zu fotografieren, und dann am 22. Juli 1946 als Fotoreporter den Anschlag auf das King David Hotels in Jerusalem festhielt. Wenn er wollte, könnte er sämtliche Zwischenstationen seiner Reise nach Prag aufzählen (Jaffa, Split, Zagreb, Sarajevo, Samak, Belgrad, Bratislava, Budapest), die er kurz nach dem Krieg als Korrespondent der Zeitung Ha'olam Ha'zeh (Diese Welt) unternommen hatte; er könnte erwähnen, dass er damals auch kurz in Deutschland war und die Lager der ‘Displaced Persons’ besucht und fotografiert hat. Die Fotos könnte er aus den Schachteln hinter ihm ziehen – aber wen interessiert das? Ist es zudem so wichtig zu wissen, wie er 1948 ein Visum für die USA ausgerechnet aus der deutschen Auswanderer-Quote bekam, die niemand in Anspruch nehmen konnte, da die Deutschen damals keine Reisepässe hatten?[2] Viel zu oft hat er schon berichtet, wie er in New York den Maler und Filmemacher Hans Richter kennenlernte – eine entfernte Verwandte, die Fotografin Lou Landauer, hatte den Kontakt hergestellt –, wie er im israelischen Touristik-Büro in New York arbeitete und nebenher Abendkurse in der New School for Social Research im Fach Journalistik besuchte. Er war nicht lange dort – einen kleinen Hinweis seines Dozenten hat er aber als Maßstab behalten: Es gibt nur drei mögliche Reaktionen auf einen Text: “Oh, how wonderful!“, “Oh, how horrible!“ und – wenn einen der Text kaltlässt: “Oh … !?“.

Film Society

Nachdem Bachmann bei Hans Richter in New York einiges über das Filmemachen gelernt hatte, beschäftigte er sich mit der Geschichte der Filmkunst und ihren Werken. Eine wichtige Basis für die Filmkultur in den USA waren die zahlreichen Filmclubs. Die größte US-amerikanische Film Society war das 1947 von Amos und Marcia Vogel gegründete Cinema 16 mit seinen bis zu 7000 Mitgliedern. Cinema 16 war eine gemeinnützige Organisation zur Verbreitung von “documentary, sociological, educational, scientific and experimental motion pictures”. Film wurde dabei verstanden als “an art and as a social force”.[3] Ein Filmprogramm bei Cinema 16 bestand immer in einer Kombination aus mehreren Kurzfilmen unterschiedlicher Bereiche: Im ersten Programm vom November 1947 waren das: ein Film über Tanz, ein handgemalter Film, eine surrealistische Studie sowie eine Dokumentation über das Verhalten von Affen und ein Trickfilm. Ab Sommer 1949 fanden im Central Needle Trades Auditorium Filmvorführungen statt, das 1600 Plätze fasste.

Die Form einer Film Society hatte vor allem zwei Vorteile: Zum einen war durch die regelmäßigen Mitgliedsbeiträge die Finanzierung langfristig kalkulierbar. Zum anderen unterlagen die gezeigten Filme nicht der Vorzensur, die in den USA vor allem auf die Einhaltung moralischer Standards achtete. Bachmann hatte 1953 selbst einen Club in New York gegründet: die Group for Film Study (GFS), von seinen Freunden scherzhaft ‘Gideon’s Film Society’ genannt. Der Club zeigte bei seinen regelmäßigen Vorführungen Stummfilme von Theodore Dreyer, Jean Epstein, Luis Bunuel, G. W. Pabst und Marcel l’Herbier, die mit Schallplattenmusik unterlegt wurden.

Im Programmheft zum 18. Film-Programm der GFS vom 21. Februar 1954 finden sich die Ziele der Vereinigung dargestellt:

Die Group for Film Study ist eine nicht-kommerzielle Mitglieder-Organisation, die sich dem Studium des Films als Kunst und Medium der Kommunikation widmet. Ihre Programme sind so gestaltet, dass sie das Bewußtsein des Publikums für die Existenz eines qualitätvollen Kinos erweitern und, indem sie ein intelligentes und kritisches Filmpublikum schaffen, die Nachfrage nach guten Filmen erhöhen. Eine der Gründe für die Entstehung der GFS ist es, gegen die Überzeugung zu kämpfen, dass der Grund für die Produktion von ’mittelmäßigen’ Filmen eine ’allgemeine Nachfrage’ sei.[4]

Auch wenn sich die GFS in seinen Filmprogrammen der Jahre 1954 und 1955 den frühesten Werken der Filmgeschichte widmete (darunter z. B. D. W. Griffiths Intolerance (1915/1916)) distanzierte sich Bachmann von den sogenannten FOOFs (Friends Of Old Films), einer Cineasten-Clique, die vor allem obskure Werke bevorzugte, und sich dazu sowohl zu Aufführungen der Theodore Huff Memorial Film Society[5] traf, als auch gerne die Filmprogramme von Cinema 16 besuchte, wo es immer wieder ausgefallene Filme zu sehen gab.

 

Abb. 2. Filmstill aus Bachmanns Dokumtenarfilm: ’Protest – wofür? Tendenzen des amerikanischen Underground-Cinema’, 1968. Im Vordergrund Gerd Stern, Mitglied der Kunstkommune USCO.

 

Ein Jahr beteiligte sich der Cineast Jonas Mekas an der GFS, mit dem Bachmann 1952 Filmkurse bei Hans Richter am New Yorker City College besucht hatte. Danach ging er eigene Wege, gab ab 1955 die Zeitschrift Film Culture heraus, gründete 1962 die Filmmakers’ Cooperative[6] mit und wurde zum Protagonisten des New American Cinema. Bachmann und Mekas, die befreundet blieben, verfolgten nun unterschiedliche Interessen. Während sich Bachmann dem populären europäischen Kino samt seinen Außenseitern zuwandte, distanzierte sich Mekas vom pluralistischen Programm von Cinema 16 und entwickelte eine einseitig avantgardistische Einstellung zum Film: “Old cinema, even when its successful, is horrible; New Cinema, even when it fails, is beautiful.”[7] Amos Vogel, der Mekas lange unterstützt hatte, sah in dieser Haltung die Gefahr, dass aus der Avantgarde ein Establishment werden könnte. Er konnte sich mit seiner undogmatischen Haltung nicht durchsetzen: Cinema 16 und sein Filmverleih Cinema 16 Library mussten 1963 ihre Arbeit einstellen.

Kino im Radio

Aus den Programmheften von Bachmanns Group for Film Study (GFS) entwickelte sich 1955 die Zeitschrift Cinemages, deren neun Ausgaben Bachmann im Alleingang bis 1958 herausgab. Parallel zur Zeitschrift entstand dessen wöchentliche 30-minütige Radiosendung Film Forum. Etwa 150 Sendungen wurden zwischen 1955 und 1958 jeweils freitags um 19 Uhr von der Station WFUV[8] ausgestrahlt, dem Sender der New Yorker Fordham University. Lokale, unabhängige Sender waren (und sind) in den USA nichts Außergewöhnliches, denn anders als in Europa war das Radio dort nicht staatlich reguliert, sondern privat organisiert. Die Sender waren fast ausschließlich werbefinanziert oder wurden von Universitäten und Colleges betrieben. Ein unabhängiger, öffentlicher Rundfunk existierte nur am Rande in Gestalt des National Public Radio (NPR), das landesweit sendete und durch freiwillige Hörerbeiträge finanziert wurde.

 

Abb. 3. Cinemages 1, 1955

 

Mit Film Forum war Bachmann ein Pionier im US-Radio. Nur in Kanada gab es bereits Rundfunksendungen zu Filmthemen: Gerald Pratley (1923–2011) moderierte zwischen 1948 und 1975 im CBC-Radio The Movie Scene, Pratley at the Movies und die Sendereihe Music from the Films, von der Bachmann einige Ausgaben in sein Programm übernahm. Bachmann hatte mit seiner Sendung bei WFUV freie Hand, wurde allerdings auch nicht finanziell unterstützt, was dazu führte, dass er 1958 mit einer neuen Sendung The Film Art zum kommerziellen New Yorker Sender WBAI wechselte. Diese Station war das Privatvergnügen des Millionärs Louis Schweitzer, der sie 1955 gekauft hatte, um ein Programm mit Kammermusik, Literatur und akademischen Vorträgen zu hören, das er in New York bisher vermisste. In dieses Konzept passte Bachmanns Sendereihe, die den Film als Kunstform und nicht als Produkt der Unterhaltungsindustrie ansah. Als Schweitzer 1960 den finanziell wenig ertragreichen Sender WBAI an die von Lewis Hill[9] gegründete gemeinnützige Pacifica-Foundation übergab, erweiterte sich die Reichweite von The Film Art, da Pacifica auch Sender an der Westküste in Berkeley und Los Angeles unterhielt. Weil das Programm aber werbefrei war, verlor Bachmann seinen bisherigen Sponsor, die Autofirma Rover, die ihm als Gegenleistung für eine Erwähnung in seiner Sendung einen Geländewagen zur Verfügung gestellt hatte. Mit steigender Bekanntheit wurde The Film Art auch von öffentlich-rechlichen Sendern ausgestrahlt: Bachmanns Sendungen wurden vom Dominion Network des kanadischen CBC und dem Kultursender Third Program der BBC übernommen.[10]

                     Abb. 4. Titelseite der Programm-              Abb. 5. Tonbandschachtel für ‚The Film Art’, mit einem

Broschüre des Radiosenders                    Gespräch mit der Schauspielerin Jean Seberg (A bout de Souffle),

WBAI, New York, Oktober 1960.                zuerst ausgestrahlt am 28. Mai 1961 von WBAI, New York.

Berichte aus Europa

1961 kam Bachmann nach Frankreich, um bei den Filmfestspielen in Cannes Shirley Clarkes Film The Connection (1960) vorzustellen.

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Er blieb danach in Europa, ließ sich in Italien nieder und machte weiterhin Filmsendungen für seinen New Yorker Sender. Nun kamen die Gäste nicht mehr ins Rundfunkstudio, sondern Bachmann ging mit seinem Tonband auf die großen Filmfestivals, von denen er für sein amerikanisches Publikum berichtete. Seine Berichte und Gespräche kamen aus Paris und London sowie von den Festivals in Cannes, Berlin, Moskau, Venedig, Florenz und Prag, wo er neue Filme und Filmkünstler vorstellte. Bachmann besuchte aber auch die Schauplätze außerhalb der Galas und Blitzlichter. In Paris sprach er 1961 mit Lotte Eisner, der Kuratorin der Cinémathèque Française und in London mit Stanley Reed vom British Film-Institute (ca. 1961). Er traf Filmemacher, die damals noch wenig bekannt waren und später zu den Großen ihrer Zunft zählten sollten: darunter Jean-Luc Godard, Andrey Tarkovski, Pier Paolo Pasolini.

“No question and answer game”

Gideon Bachmann machte – wie er häufig betonte – keine Interviews, sondern er führte Gespräche. Das bedeutete, dass er auf die Standardfragen verzichten konnte, die sonst üblich sind: “Wann arbeiten Sie wieder mit X?“, “Was reizt Sie an der Rolle der Y?“, “Wie war es bei den Dreharbeiten von Z?“ Es war für ihn wichtiger, auf grundsätzliche und deshalb in Interviews selten gestellte Fragen zu kommen: Warum tut jemand das, was er tut? Was sind seine Ziele? – Oder in Bachmanns Worten: “What makes him tick?“

[12]

Auch wenn Bachmanns Gesprächsführung eher intuitiv wirkt, lassen sich einige Kunstgriffe ausmachen, mit denen er die Unterhaltung in Gang bringen konnte: In der Art des bekannten, immer etwas zerstreut wirkenden TV-Ermittlers ‘Inspektor Columbo’ tastete sich Bachmann manchmal mit einer etwas umständlich oder nicht ganz korrekt formulierten Frage vor und lockte dadurch den Gesprächspartner aus der Deckung, der dann seinerseits einige Dinge richtigstellte und so in das Thema einstieg.

 

Abb. 6. Bachmann mit Olivetti, Lettera 22, um 1963 vermutlich in Italien.

 

Der ‘Small Talk’ bewährte sich als Mittel zum Aufwärmen. Hier sind es die kleinen Erlebnisse des Fragenden, die eine Verbindung zum Ort und zur Zeit des Gesprächs sowie zur Person des Gesprächspartners herstellen: das Verlaufen im Hotel, die Anreise, vermutete gemeinsame Bekannte, die Tücken des Tonbandgerätes. Das Entscheidende ist hier der richtig gewählte Zeitpunkt, um das Gespräch auf wichtige Themen zu lenken.

Der ‘Überraschungs-Effekt’ war ein selten angewandter Kniff: “Are you interested in movies?” war Bachmanns erste Frage an den griechischen Filmstar Melina Mercouri, die dadurch leicht aus dem Konzept geriet und nun anfing, das scheinbar Selbstverständliche, nämlich ihre Beziehung zum Film, zu beschreiben.

[13]

Bachmann hatte nach eigener Aussage keine Vorbilder für seine Gespräche mit Filmpersönlichkeiten. Das von Cineasten hoch geschätzte Buch des Regisseurs François Truffaut Le Cinéma selon Hitchcock (1966) war für ihn ein negatives Beispiel einer Gesprächsführung.[14] Das Buch entstand aus rund 50 Stunden Interviews, die Alfred Hitchcock während einer Augustwoche des Jahres 1965 mit Truffaut geführt hatte. In chronologischer Folge wurden dabei sämtliche Filme des Briten vor allem in technischer und dramaturgischer Hinsicht besprochen. Dadurch und durch die zahlreichen Filmstile scheint das Buch die geheimen Zutaten für Hitchcocks Suspense-Thriller zu enthüllen und zu zeigen, wie seine Alptraumfabrik funktioniert. Bachmann hielt nichts von dieser Art des Interviews, bei der man viele Fakten, aber wenig von den Beweggründen des Regisseurs erfährt, der sich hinter sachlichen Angaben zu Drehtagen und Studiodekorationen verstecken kann. Nicht ‘wie’ etwas gemacht wird, sondern ‘warum’ interessierte Bachmann. Er ging davon aus, dass der persönliche Blickwinkel kein Ergebnis der Technik ist, und dass Film im Grunde keine Industrie, sondern eine Kunst ist, für die es keine Gebrauchsanweisung und Rezepte geben kann.

Eine persönliche Filmgeschichte

Bachmanns Audio-Archiv ergibt mit seiner Vielzahl von Aufnahmen eine ‘Oral History’ des Kinos der 1950er und 1960er-Jahre. In der großen Anzahl von rund 500 Gesprächen mit Regisseuren, Schauspielern, Filmhistorikern, -veranstaltern und -publizisten lassen sich folgende Themenfelder erkennen:

1. Experimental Cinema

Hans Richter gibt Bachmann 1956 und 1961 Auskunft über seine Filme, die sich aus der Malerei entwickelt haben; Norman McLaren berichtet 1957 über seine handgezeichneten Filme; Maya Deren wirft 1959 die Frage auf, ob der Film zur Fotografie gehört oder ob der Regisseur eine Art Maler ist, der Dinge auch verzerrt darstellen kann.

[15]

In einer Roundtable-Diskussion von 1955 sprechen die Filmmacher und Filmvermittler Ian Hugo, Lewis Jacobs, Parker Tyler und Amos Vogel über den unabhängig produzierten Experimental-Film der durch Museen, wie zum Beispiel das Film-Programm Art in Cinema des San Francisco Museums (seit 1947), und Film-Clubs wie Cinema 16 Verbreitung fand.

3. Cinema of Improvisation

Das Cinema of Improvisation verfolgt mit seinen Laiendarstellern und Zufallsbegebenheiten, mit Umgangssprache und wirklichen Schauplätzen ähnliche Ziele wie die gleichzeitig in Europa entstehende Nouvelle Vague, nämlich die Spontaneität des Alltags wiederzugeben. John Cassavetes spricht mit Bachmann über The Shadow (1959), einen unabhängig und mit kleinem Etat produzierten Spielfilm, dessen Handlung improvisiert wurde.

[16]

Robert Frank berichtet 1959 von den Dreharbeiten zu Pull my Daisy (1959), mit den drei Schriftstellern Jack Kerouac, Allen Ginsberg und Gregory Corso als Darsteller und ihren nicht festgelegten Dialogen. Bachmann stellt dabei die Frage, wie stark der Regisseur oder die Cutter im Nachhinein in das Material eingreifen sollen.

3. Film und Zensur

Auch die Zensur von meistens ausländischen Filmen ist ein Thema, auf das Bachmann immer wieder zurückkommt: Ein französischer Film wie Lady Chatterlys Lover (1955) wurde noch 1956 von den amerikanischen Behörden wegen der Darstellung des Ehebruchs zensiert. 1959 wurde der westdeutsche Film Liane, das Mädchen aus dem Urwald (1956), der einige freizügige Szenen enthält, in New Yorker Filmtheatern in zensierter Fassung gezeigt. Bachmann spricht 1959 mit John E. Fitzgerald, einem Berater der Catholic Legion of Decency, die gegen angeblich obszöne Filme vorgeht, und 1957 mit dem Anwalt Ephraim S. London, der gegen die Zensur kämpft. Thorold Dickinson, der Leiter der Filmabteilung der UN, berichtet, wie Filme nachträglich gekürzt werden, damit sie in den Zeitrahmen der Filmtheater-Programme passten. Zum Thema der Zensur plante Bachmann 1958 auch eine Sondernummer seiner Zeitschrift Cinemages mit dem Titel ‘Censorship. An international resumé. The American system compared to other countries. 500 illustrations of cut scenes’.

4. Film-Archive/Film-Politik

Die Filmhistorikerin Lotte Eisner von der Cinémathèque française spricht mit Bachmann über den Einfluss der täglichen Filmvorführungen der Cinémathèque auf die Filmemacher der Nouvelle Vague, die dort mehr gelernt hätten als auf der Pariser Filmhochschule EDHEC. Jerzy Toeplitz, der Autor eines Standardwerks zur Filmgeschichte, schildert die Arbeit polnischer Regisseure im Ausland. Mary Field vom International Centre of Films for Children der UNESCO, berichtet von der Produktion von Filmen, die sich auf die Wahrnehmungsweise von Kindern einstellen und gleichzeitig unterhaltend und erzieherisch wirken sollen. Bachmann interessiert sich hier dafür, ob Grausamkeit in Kinderfilmen dargestellt werden soll.

5. Dokumentarfilm

Einige Macher von ‘Documentaries’ oder ‘Films of Facts’ (wie 1942 eine Schau an der Film Library des Museum of Modern Art (MoMA) hieß) stellt Bachmann in seinen Gesprächen vor: Richard Leacock und Don Alan Pennebaker vertreten das Direct Cinema, das mit der Handkamera möglichst unbemerkt ins Geschehen eintritt; in Jean Rouchs Konzept des Cinéma verité wird die Anwesenheit der Kamera thematisiert; Leni Riefenstahl erklärt die rhythmische Schnitttechnik ihrer Olympia-Filme aus ihrer Erfahrung als Tänzerin.

6. Projekte

Eine eigene Kategorie bilden Bachmanns zwei große, unabgeschlossene Projekte, für die er jahrelang eine große Zahl von Gesprächen geführt hatte, die als Grundlage dienen sollten.

 

Kurz nach dem Tod des Dokumentarfilmers Robert Flaherty (1884–1951) begann Bachmann für eine 1957 angekündigte Sondernummer seiner Zeitschrift Cinemages Gespräche mit Personen zu führen, die Flaherty nahegestanden waren: mit seiner Frau und Mitarbeiterin Frances, seinem Bruder David, mit Helen van Dongen, der Cutterin von Flahertys letztem Film Louisianna Story (1948). Richard Griffith, der Kurator der Filmbibliothek des MoMA und Autor von The World of Robert Flaherty (1953) gab Bachmann bereitwillig Auskunft über Flaherty und seine Vorstellung von harmonischen Beziehungen zwischen Mensch und Natur, die er bei den Inuit und Südseeinsulanern zu finden glaubte. Zu einer Publikation des Materials über Flaherty kam es jedoch nicht.

 

Abb. 7. Gideon Bachmann (links) und Federico Fellini. Filmstill aus Bachmanns Dokumentarfilm ’Ciao, Federico!’, 1970

 

Mit Federico Fellini verband Bachmann eine lange, wechselvolle Beziehung: In New York führte er 1958 sein erstes Gespräch mit dem Regisseur, der zum ersten Mal die USA besuchte und wenig Englisch sprach. Ein paar Jahre später ging Bachmann nach Rom, lernte dort Italienisch, arbeitete als Standfotograf bei den Dreharbeiten zu Fellinis 8 1/2 (1963) und führte viele Gespräche mit Mitarbeitern und Freunden von Fellini für seine geplante Biografie des Regisseurs, die beim New Yorker Verlag Simon & Schuster erscheinen sollte. Dieses Projekt scheiterte jedoch. Nachdem Fellini schließlich einem einzigen Interview zugestimmt hatte, wurden die Tonbänder des Gesprächs vom Übersetzer zurückgehalten. Ein erneutes Interview verweigerte Fellini und Bachmann begann den Grund dafür zu ahnen: Fellini hatte ihm beim ersten Treffen so viele erfundene Geschichten aufgetischt, dass er nun eine erneute Begegnung mit seinem Biografen scheuen musste.

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Bachmann verfolgte jedoch weiterhin Fellinis Arbeiten und produzierte die Dokumentation Ciao, Federico! (1970) und diejenige über die Dreharbeiten zum Satyricon (1969). Der Film dokumentiert, wie angespannt und unwillig Fellini auf die Anwesenheit von Bachmann und seiner kleinen Crew reagiert. Bachmann agiert hier wie ein Paparazzo, oft aufdringlich und ohne Distanz. Im Gegensatz dazu stehen seine Radiointerviews, bei denen er dem Gesprächspartner fast nie zu nahe tritt. Der Film führte dazu, dass der Kontakt zwischen Bachmann und Fellini über Jahre unterbrochen war. Ein Gefühl von Ernüchterung bringt der Titelsong zu Ciao, Federico! zum Ausdruck, den Bachmann, William Conti and Robert Hensley komponierten und texteten:

You are only living when you’re playing,

you get so sad when day-dream time is through,

you’re dreaming when nobody else is sleeping,

the promises you made did not come true.

 

I’ll say ciao, Federico, gotta be on my way,

ciao, my amigo, tomorrow came today,

I’ve got to find someone who’s not afraid to love,

so, ciao, Federico, good bye.

 

[18]

“Wir können unsere Stimme nicht verstecken” – Bachmanns Traum vom akustischen Museum

Bachmann hat viel über den Film geschrieben: In seiner eigenen Zeitschrift Cinemages, in Film Culture, die sein Freund Jonas Mekas mitgegründet hat, in der Fachzeitschrift Film Quarterly, in den deutschen Magazinen Film und Cinema. Der größte Teil von Bachmanns journalistischen Arbeiten sind jedoch seine Tonaufnahmen, die zum großen Teil als Radiosendungen ausgestrahlt wurden. Diese Beiträge sind nur zu einem kleinen Teil transkribiert, wodurch sie für die Forschung, die sich vor allem auf gedruckte Quellen stützt, weitgehend unbemerkt blieben.

In verschriftlichter Form ginge den Gesprächen allerdings auch etwas Wichtiges verloren: die individuelle Stimme. “The voice is the most accurate image of the person – we can’t hide our voice”, sagte Bachmann um 2000 in einem Gespräch mit Istvan Szabo, dem Regisseur (u.a. Mephisto, 1981) und Mit-Initiator der 1989 gegründeten Europäischen Filmakademie. Weil ihm die Stimme als Merkmal der Persönlichkeit so wichtig war, hielt Bachmann es deshalb auch für barbarisch, dass in Deutschland bei fremdsprachigen Filmen die Originalstimmen durch deutsche Sprecher ersetzt werden. Gegen das Synchronisieren von Filmen hatte Bachmann generell nichts. In Italien hatte er erlebt, dass traditionell bei der Filmproduktion die Originalstimmen und -geräusche erst nachträglich hinzugefügt wurden. Der Vorteil dabei war, dass bei der Filmaufnahme ohne Ton eine ungezwungene Werkstattatmosphäre herrschen kann: Wenn die Kamera laut surrt, der Regisseur Anweisungen ruft oder die Dekoration knarrt, stört das die Aufnahmen nicht.

“There are so many cinemathèques that preserve the film but nobody preserves the filmmakers”, sagte Bachmann im Gespräch mit Istvan Szabo (ca. 2000). Zu dieser Zeit hatte er schon damit begonnen, einen Ort für sein Stimmenmuseum zu suchen, dem er im Lauf der Jahre verschiedene Stimmen gab: 2003 entstand der Plan zu einem International Voice Museum (IVM); 2005 sollte eine CD-Edition Filmstimmen projektieren, Herausgeber sollte das Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) in Karlsruhe sein, als Verlag war Bertz & Fischer vorgesehen. Im selben Jahr gründete Bachmann das a.s.k. (akustografisches stimmenarchiv karlsruhe) und gewann für kurze Zeit als Mitarbeiter Hans Gass (Aural mechanics), Olivia Toffolini und Tschekide Schahabian (Digitalisierung) und Dirk Schulz (Design). Ab etwa 2008 bekam das Projekt seinen endgültigen Namen Vox Humana. Verwirklicht wurde es bisher nicht, Bachmanns Audioarchiv ist seit 2014 Teil der Sammlung des ZKM in Karlsruhe und wurde innerhalb einer Auswahl 2016 in der Präsentation Film Art on Air vorgestellt. Für Bachmann war Vox Humana kein abgeschlossenes Projekt, sondern work in progess:

Das Stimmenmuseum ist eine Einrichtung, die die Stimmen bekannter Persönlichkeiten in verschiedenen Kunstrichtungen sammelt, digitalisiert und zugänglich macht. Seine Struktur basiert darauf, dass laufend Aufnahmen gemacht werden von Leuten, die entweder heute schon wichtig sind oder von denen wir annehmen, dass sie morgen wichtig sein werden. Der Bestand bisher, das sind weitgehend die Bänder von meinen Radiosendungen […] Und wenn wir heute nicht weitermachen mit diesem Projekt, heute Leute aufnehmen, die vielleicht morgen interessant werden, dann hat das ganze Projekt keinen Zweck.[19]

Literaturverzeichnis

Avidam, Igal (2008). „Der Ton macht die Person: Filmexperte Gideon Bachmann initiiert in Karlsruhe ein Stimmenmuseum“. In SWR 2 Radio, Sende-Manuskript vom 21.11.2008.

Bachmann, Gideon/Mekas, Jonas (1954), The Group for Film Study presents: The Beginnings of American Experimental Cinema. GFS showing # 18, Feb. 21st, 1954. Speaker: Josef von Sternberg. New York.

Cleveland Museum of Art (1958), “Lecture – The Film as Art by Gideon Bachmann”, In Cleveland Museum of Art. Press Releases. https://archive.org/details/cmapr0286 (abgerufen am 19.12.2018).

Everson, William K. (o. J.), “The Theodore Huff Memorial Film Society – A Brief History by William K. Everson”. In William K. Everson Archive, ed. Team Everson. New York. https://www.nyu.edu/projects/wke/byseries/huff_index.php (abgerufen am 19.12.2018).

Lamberty, Ingo (1988): Freies Radio in den USA. Die Pacifica Foundation. Berlin: Express Ed.

MacDonald, Scott (2002): Cinema 16. Documents Toward a History of the Film Society. Philadelphia: Temple University Press.

Scheugl, Hans/Schmidt, Ernst jr. (1974): Eine Subgeschichte des Films. Lexikon des Avantgarde-, Experimental- und Undergroundfilms. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Truffaut, François/Scott, Helen (1966), Le Cinéma selon Hitchcock. Paris: Robert Laffont.

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Permalink: https://www.lettereaperte.net/artikel/numero-52018/401

Foto: © Marie Falke