How I blatantly use you to clarify my ideas – Form und Bedeutung des Interviews im Werk von Gideon Bachmann (am Beispiel der Pasolini-Gespräche)
Non una vera intervista, ma semplicemente parlare...
Gideon Bachmann an Pasolini (Audio-Mitschnitt, April 1975).[1]
Gideon Bachmann gehört, mit John Halliday (alias Oswald Stack) und Jean Duflot, zu den drei Personen, wohlgemerkt alles Nicht-Italiener, denen Pasolini wiederholt ausführlichere Interviews eingeräumt hatte.[2] Die Gespräche mit Halliday-Stack und Duflot wurden bereits zu Pasolinis Lebzeiten in einheitlicher Form editiert. Die seit 1961 bis zu Pasolinis Tod in unregelmäßigen Intervallen geführten Interviews von Bachmann hingegen zirkulierten, zumindest einige davon, in unterschiedlichen Kontexten – Zeitungen (NZZ, Il Messaggero), Zeitschriften (Playmen), auch im Fernsehen (Televisione della Svizzera Italiana) – bevor sie auszugsweise in der Mondadori Werkausgabe von Walter Siti und schließlich vollständig in der Ausgabe von Riccardo Costantini von 2015 mit dem Titel Polemica Politica Potere. Conversazioni con Gideon Bachmann veröffentlicht wurden.[3] Dies ist nicht der einzige Umstand, durch den sich Bachmanns Interviews mit Pasolini von den anderen beiden Beispielen unterscheiden.
1. “Mit angestrengtem Lächeln und dem Ausdruck des Bären, der zum Tanzen gezwungen wird“
Das zwiespältige Verhältnis Pasolinis zu den Medien und ihren Funktionären, Journalisten und Fernsehmoderatoren, ist bekannt: Einerseits verachtet er sie, es sind “cretin[i] dall’aria piccolo borghese“, die sich, wie im Übrigen die Intellektuellen, ihrer eigentlichen Rolle als ’Inquisitoren’ der Spektakelgesellschaft, Komplizen eines neuen Beutekollektivs, einer “neuen Art der Barbarei“ gar nicht erst bewusst sind.[4] Andererseits sucht Pasolini die mediale Aufmerksamkeit in einem Ausmaß, das weit über die neuen, den Kulturbetrieb insgesamt betreffenden Anforderungen hinausreicht. Pasolini macht sich die Medien mit der Zeit bewusst zu Nutze: nicht nur aus kommerziellem Kalkül, nicht allein zur Verbreitung seiner politischen Botschaft. Er involviert sie, macht sie zum strategischen Teil einer Poetik, in der das “Werk“ keinen autonomen Status mehr hat[5], sondern strukturell unfertig und für Ergänzungen seitens der Empfänger offen bleiben soll. Das Werk ist dynamisch beteiligt an einem Prozess, der erst im Akt der Lektüre und der bildhaften Ergänzung im Geist des Lesers/Zuschauers aktiviert wird (genau wie auch ein Drehbuchtext erst durch eine figurative Ergänzung, also in der Verfilmung zur Verwirklichung gelangt).[6] Wo das Kunstwerk unfertig bleibt – “opera da farsi“ – werden Funktionäre der Medienwelt mit zu möglichen Faktoren der im Werk selbst angelegten Forderung nach Vervollständigung: Sie regen eine solche an, indem sie die Frage nach seiner Bedeutung in die Öffentlichkeit tragen, oder aber sie leisten sie gleich selbst, indem sie dieselbe Frage beantworten – und dem Autor damit wiederum die Möglichkeit geben, etwaige Deutungen öffentlich zu dementieren und so die auktoriale Deutungshoheit über Umwege wiederherzustellen. Dass das Werk die in ihm enthaltene Forderung nach Ergänzung mitunter just im Epitext[7], also zirkulär, in Pasolinis eigenen Stellungnahmen, wenn nicht sogar in seinen öffentlichen Handlungen, in seinem Leben selbst finden, unterscheidet Pasolinis Schaffen teilweise vom ’offenen Kunstwerk’ im poststrukturalistischen Sinn und bindet jenes, gegen die theoretischen Tendenzen seiner Zeit, wieder unmittelbar an die Figur des Autors.[8]
Pasolinis Bereitschaft zum Austausch mit den Medien kann auch in diesem Zusammenhang gedeutet werden. Im Gespräch mit Journalisten gelingt es ihm zunächst, die Wirkung seiner programmatisch offenen Kunst direkt mitzuerleben. Er kann die im Akt der Auseinandersetzung vollzogene Verwirklichung seiner Kunst beobachten und, nicht zuletzt, auktorial beeinflussen. Aber es ist auch der Austausch selbst, insbesondere die Form ’Interview’, die ihn interessiert, unabhängig von seiner diesbezüglich stets ausgestellten Unlust (er “hasse Interviews“, schreibt er im Vorwort zu den Gesprächen mit Duflot, und die Beispiele, die er hiervon in fiktionalem Kontext wiederholt reproduziert, lassen darüber keinen Zweifel[9]). Auch das Interview zählt auf seine Art zum Spektrum jener “Formen in Bewegung“, die Pasolini im Lauf der 60er Jahre für sich entdeckt und beansprucht hat.[10]
Auch das Interview, das wirkliche, nicht-fiktionale Interview, ist eine unfertige Form, zumal in gedruckter Fassung. Ein Interviewtext besteht lediglich aus Zeichen, die indes auf eine klangliche und visuelle Realität verweisen, auf den Tonfall und die Mimik der Gesprächspartner, ohne die das Gespräch semiotisch unvollständig bleibt und die im Akt der Lektüre integriert werden müssen. Pasolini selbst thematisiert diesen Umstand in der Einleitung, die er den Duflot-Gesprächen voranstellt.[11] Auch in den Konversationen mit Gideon Bachmann liest man an einer bestimmten Stelle – die chronologisch nicht zufälligerweise der Periode von Pasolinis “semiologischen“ Reflexionen entspricht[12]:
Io adesso la guardo quando la sento parlare, la sua parola acquisisce un senso; ma quando vedo la sua parola scritta, il senso diventa un altro. La sua immagine, in qualche modo, collabora con la parola scritta, in un modo indiretto, perché io non me ne rendo conto, si tratta di un fatto quasi meccanico.[13]
Anders als in den “racconti da farsi“, die Pasolini programmatisch an das Beispiel des Drehbuchs anlehnt, scheint ihn hier die semiotische Unfertigkeit zu beunruhigen, da die zu integrierende Komponente nicht ein projektiv Imaginäres, wie in fiktionalen Texten, sondern ein retrospektiv Reales ist, da heißt, das wirklich stattgefundene Treffen zwischen zwei realen Menschen. Was Leserinnen und Leser hier ergänzen, setzt eine empirische Wirklichkeit voraus, die Pasolini, sein öffentliches Bild, seine Meinung direkt betreffen.
Das Interview ist für Pasolini in verschiedener Hinsicht ein Ort der Missverständnisse. Das zeigen nicht zuletzt die auffallend vielen Richtigstellungen, zu denen sich Pasolini während seiner Gespräche mit je unterschiedlichen Partnern veranlasst fühlt. Kann er diese im Moment der Interaktion noch korrigieren, so entzieht sich das gedruckte Interview als unfertige und ergänzungsbedürftige Form seiner Kontrolle. Der Phantomschmerz, den Pasolini beim Lesen der audiovisuell ’amputierten’ Form seiner Gespräche mit Duflot ereilte, veranlasste ihn dazu, seine Aussagen mittels in Klammern gefassten Didaskalien zu ergänzen, die seiner emotionalen Reaktion auf die Fragen, seiner Stimmlage und seinem Gesichtsausdruck Rechnung tragen. Vor Pasolinis Reaktion auf die Bemerkung Duflots, wonach ”[l]ei è ateo, non ha nient’altro che questa vita”, lesen wir:”[Sorriso sforzato: aria dell’orso costretto a ballare]”[14] …
Doch noch als Fehlerquelle ist die Form ’Interview’ für Pasolini von Interesse. Als solche bietet sie ihm in der Tat immer wieder eine Gelegenheit, sich selbst als den ewig ’Unverstandenen’, ja als Verfolgten darzustellen und damit zum Teil seiner parrhesiastischen Autofiktion zu werden[15], entweder im Gespräch selbst oder post festum in Berichtigungen und Distanzierungen.
2. Formen in Bewegung
Es fragt sich indes, ob es nicht Gründe gibt, die Pasolinis Bereitschaft gegenüber dem Interview auch jenseits von solch strategischen Aspekten erklären (die ihm immer ein wenig den Anschein eines kühl berechnenden Autors geben). Ist es nicht die per se spannungsgeladene Form des Interviews, die ihn reizt?
Das Gespräch, so könnte man behaupten, ist genau jene Situation, in der sich Pasolinis Poetik der semantischen Integration konkret verwirklicht. Jede Aussage impliziert ein “da farsi“, seine Bedeutung entfaltet sich dynamisch, in einer Abfolge bestehend aus Aufnahme, Verarbeitung, Erwiderung: “La parole est à moitié à celui qui écoute et à moitié à celui qui parle“, wie Montaigne meinte (Essais, III, 13). Und seine Beobachtung ist nicht umsonst im Titel eines entretien zwischen Gérard Macé und Jean Starobinski zitiert. Natürlich werden Interviews nach ihrer Veröffentlichung als Aussagequellen verwendet, einzelne Stellungnahmen des Interviewten aus ihrem Kontext isoliert und wiedergegeben. Aber ihre spezifische Form, mitsamt dem darin transportierten Inhalt hat im Grunde keine Autonomie. Sie sind Teil eines heterogenen semiotischen Ganzen, welches sie an jeder Stelle strukturiert. Einmal gesondert, bleiben die einzelnen Aussagen, bei genauerer Betrachtung, latent vom ursprünglich dialogischen Kontext markiert. Und nicht selten ist es genau dieser Kontext, der den isolierten Stellungnahmen ihre eigentümliche Energie und damit einen besonderen Reiz verleihen.
Veranschaulichen können dies die Zitate, die den Paratext der jüngst veröffentlichten Ausgabe der Gespräche Pasolinis mit Gideon Bachmann zieren, sogenannte pretesti (italienisch für ’Vorwände’, hier aber im doppelten Sinn von ’vorangestellten Texten’).
Abb. 1. Pretesto (aus: Polemica, politica, potere. Conversazioni con Gideon Bachmann, hrsg. v. R. Costantini)
Der etwas manieristische editoriale Einfall erlaubt es, die außergewöhnliche Wirkung isolierter Stellungnahmen zu vergegenwärtigen, die sich nur vor dem Hintergrund des dialogischen Kontexts erklärt.
Ein Beispiel: “Non bisognerebbe mai sperare in niente. La speranza è una cosa orrenda, inventata dai partiti per tenere buoni i propri iscritti”, so lautet einer der von den Verlegern gewählten pretesti (siehe Abbildung 1). Er entspricht der Aussage Pasolinis, die aus einem Gespräch aus dem Frühjahr 1975, genauer aus einer Abfolge von Interventionen zur Frage nach der Möglichkeit gesellschaftlich-historischen Fortschritts isoliert wurde. Die geschichts- und kulturpessimistischen Neigungen Pasolinis sind zu diesem Zeitpunkt kein Geheimnis, sein ganzes Werk, genauso wie seine öffentlichen Auftritte sind davon gezeichnet. Die lapidare Vehemenz der hier zitierten Aussage ist aber ohne Zweifel auch der Dynamik der Konversation geschuldet. Vereinfacht: Bachmann insistiert auf die Frage der Hoffnung, ungeachtet der unzweideutigen Stellungnahme Pasolinis. Er stellt sie zweimal, so als wollte er sich nicht mit Pasolini Antwort abfinden, entsprechend einer beinahe infantil starrsinnigen ’Gesprächsstrategie’, die man auch an anderen Stellen beobachten kann und die bisweilen bis zur identischen Wiederholung einer Frage führen kann.[16] Die apodiktische Bestimmtheit der Aussage Pasolinis, ihr wind- und wetterfester Pessimismus, ist in ihrer spezifischen Form also auch eine Reaktion auf die Zähigkeit der Gesprächssituation, auf die Hartnäckigkeit des Gegenübers.
Die isolierte Verwendung solcher Zitate, wie im Beispiel der pre-testi, ist nun aber umso wirksamer, als ihnen nun eben eine eigentümliche Dringlichkeit innewohnt. Sie enthalten eine Art intrinsische Appellfunktion, die eine Erwiderung seitens des Adressaten geradezu herausfordert. Genau in diesem Sinn handelt es sich um strukturell ’unfertige’ Äußerungen, die eine Fortsetzung, also eine syntagmatische Funktion postulieren. Nun, die Gefahr einer kontextfremden Wiedergabe seiner Aussagen mag Pasolini ebenso bewusst gewesen sein, wie die Vorteile, die diese mit sich bringt: Intrinsisch unabgeschlossen, enthalten seine Aussagefragmente immerzu auch eine Aufforderung an den Empfänger, zu vervollständigen, mitzudenken, das ’Gespräch’ über seinen ursprünglichen empirischen Rahmen hinaus weiterzuführen.
Vor- und Nachteile des gedruckten Interviews messen sich indes unter einem weiteren Aspekt. Das gedruckte Interview ist eine nur vermeintlich definitive Form. In Wirklichkeit handelt es sich um das ungenaue Abbild eines lebendigen Gesprächsaustausches, der eine Reihe äußerer, kontingenter Faktoren voraussetzt, die den Verlauf des Gesprächs, die einzelnen Aussagen über die etwaigen Intentionen des Sprechenden hinaus mitbestimmen: Der Ort, an dem das Gespräch geführt wird, die zur Verfügung stehende Zeit und, nicht zuletzt, die unbewussten Vorgänge in der Beziehung mit dem Gesprächspartner. Ein Interview ist damit auch das Resultat nicht rationalisierter Voraussetzungen. Die daran beteiligten Akteure, genauso wie die Leserinnen und Leser können ex post über den Verlauf des Austausches erstaunt sein. Bei der Lektüre des gedruckten Textes können sie theoretisch an jeder Stelle vergegenwärtigen, dass der Verlauf des Gesprächs, die Fragen, die entsprechenden Aussagen auch anders hätten ausfallen können – in gutem wie in schlechtem Sinn.
Und genau hier liegt ein weiterer Reiz: Das gedruckte Gespräch lebt von einer überall latenten semantischen Spannung, die im Akt der Lektüre, sofern nicht passiv oder schlicht naiv, freigelegt wird: Hier erschöpft die Antwort das Interesse der Frage nicht, da lässt die Frage, ein in der vorangehenden Antwort implizites Potential ungenutzt; hier erstaunt die Disproportion in der Beziehung der Antwort zur Frage, da markiert die Frage einen brüsken logischen Bruch gegenüber der Antwort usw. Alle Unebenheiten, gerade die Unebenheiten, wie sie in einem auktorialen Text, der überarbeitet werden kann, nicht vorkommen, sind bedeutsam. Auch wenn die klanglich-somatische Dimension wegfällt, so erfordert das Interview eine Form der Lektüre, die der Deutungsarbeit psychoanalytischen Vorbilds, in der Form und Inhalt der Aussagen über die unmittelbar transportierte Bedeutung hinaus bedeutsam, also immer auch einen figuralen Status haben.
Entsprechende Äußerungen, gerade weil der Unmittelbarkeit der Situation, insbesondere der Beziehung zum Gegenüber geschuldet, sind deshalb immer mehr als nur primäre Informationsquellen: Auch einsilbige, auch ausweichende, auch lückenhafte, repetitive oder missverständliche Momente sind bedeutsam; auch sie sagen etwas über das Verhältnis der Sprechenden untereinander, genauso wie über ihr Verhältnis zum Gesprächsgegenstand aus. Das Interview ist ein Ort der Frustration und der Erfüllung, ein Ort unverhoffter Entdeckungen und verpasster Chancen. Und auch dies macht ihn zu einer ’Form in Bewegung’: eine Form, in der die menschliche Beziehung mit den Äußerungen dynamisch interferiert; in der dem sprechenden Subjekt nicht bewusste Bedeutungen dokumentiert sind, den Leserinnen und Leser somit nicht nur eine passive Rolle, sondern eine bestimmte Deutungsaufgabe zufällt.
Wie sind nun die Bachmann-Gespräche vor diesem allgemeinen Hintergrund einzuschätzen?
3. Zu den Hintergründen der auffallend regelmäßigen Begegnungen zwischen Bachmann und Pasolini
Die regelmäßigen Begegnungen Bachmanns mit Pasolini – weit mehr als die heute veröffentlichten Interviews aus den Jahren von 1963 bis 1976 zu erkennen geben[17], weit mehr auch als diejenigen mit Duflot und Halliday-Stack – scheinen auf ein privilegiertes Verhältnis hinzuweisen. Und es ist durchaus wahrscheinlich, dass sich im Lauf der Zeit irgendeine Form der Vertrautheit eingestellt hat, nicht zuletzt als Folge der Beharrlichkeit, in der Bachmann Pasolini, wie auch Figuren aus dem Filmwesen aufgesucht und zum Gegenstand seiner – wie wir noch genauer sehen werden – sehr eigentümlichen Porträts gemacht hat.
Signale der Entwicklung einer persönlichen Beziehung liegen vor, vor allem im Übergang von der Höflichkeitsform zum vertrauteren ’Du’[18], dem auch das Aufkommen eines harmonischeren Gesprächsrhythmus, einer gewissen Symbiose im Austausch zu entsprechen scheint, wie sie im Vorfeld nicht gegeben sind. Liest man die Interviews überdies vor dem Hintergrund von Bachmanns Einträgen für das Salò-Tagebuch, die einen relativ hohen Grad gegenseitigen Vertrauens, eine fast brüderliche Zuneigung[19], dokumentieren, so erscheinen jene natürlich in einem noch einmal anderen Licht. Es finden sich indes keine Aussagen, die eine über das professionelle Vertrauen hinausreichende ’Intimität’ auch auf Pasolinis Seite bestätigt: keine Briefe, keine Hinweise in Artikeln, auch keine in dichterischem Kontext versteckten persönlichen Anspielungen, wie sie Pasolini in seinen immer stärker aktualitätsbezogenen und autobiographischen Versen mitunter macht. Auch das Schreiben vom 18. Februar 1975, mit dem Pasolini Bachmann die Exklusivrechte zur Realisierung eines Dokumentarfilms erteilt, offenbart keine speziell freundschaftliche Note – was sicher mit der notariellen Funktion des Dokuments zu tun hat, aber dennoch erstaunt.[20] Momente bemerkenswerter Vertraulichkeit sucht man in den Gesprächen zwischen Bachmann und Pasolini umsonst. Bachmanns Schilderungen in seinem Tagebuch von den Dreharbeiten zu Salò werfen also die Frage nach dem Ausmaß retrospektiver Idealisierung auf.
Natürlich dürfen die jeweiligen Voraussetzungen, in welchen die Gespräche stattfinden, nicht unterschätzt werden. Videointerviews wie jene, die im Frühjahr 1975 auf dem Set von Pasolinis De Sade Verfilmung für die geplante Pasolini-Dokumentation (Cerco, zu dt. Ich Suche) gedreht werden, lassen womöglich keine Vertraulichkeit zu, sondern entfremden die Beteiligten von natürlicheren Umgangsformen, drängen sie in eine Rolle. Bachmann, erpicht auf die Natürlichkeit seines Gegenübers als dem verwertbaren Zeichen ihres schmeichelhaften Vertrauens, beklagt sich an bestimmter Stelle über diesen Umstand, Pasolini hingegen begrüßt ihn, wie in einem Mitschnitt aus dem Frühjahr (April) 1975 deutlich wird:
Bachmann: [M]i manca qualcosa, tu rimani sempre molto emblematico, troppo oratorio...
Pasolini: Bellissimo, giusto, così! Che sia così![21]
Eine gewisse rhetorische Distanz ist seitens Pasolinis also durchaus gewollt – quasi als verkörperte er selbst jene stilistische Ziffer, nach der Salò gestaltet werden sollte, das heißt obsessive stilistische Kontrolle zur Erzeugung allegorischer Wirkung, im Kontrast zum Realismus anderer Filme. Pasolinis in den Gesprächen allgemein eher reservierte Haltung kann durchaus auch in diesem Sinn, also unabhängig von der Wirklichkeit ihrer Beziehung und der darin möglichen Freundschaftlichkeit gedeutet werden. Der Eindruck einer Diskrepanz zwischen Bachmanns Darstellung und der in den Aufnahmen, insbesondere vor Salò, vermittelten Stimmung bleibt aber bestehen. Noch einmal: Wie also lassen sich die über fast 15 Jahre regelmäßigen Gespräche erklären?
Die Vorbemerkungen über Pasolinis allgemeine Beziehung zum ’Interview’ in den Duflot-Gesprächen lassen einige Mutmaßungen zu:
[...] non mi rifiuto come dovrei di ‘concedere’ interviste: ma per pura debolezza, perché non so dir di no, perché penso che forse è utile, perché penso sia utile all’intervistatore ecc. ...[22]
Pasolinis notorische Großzügigkeit[23]: Einem ebenso notorisch hartnäckigen Journalisten wie Bachmann, dessen Vorgehensweisen im Licht seiner Fellini-Dokumentation sogar ’aufdringlich’ und ’undistanziert’ scheinen[24], dürfte es keine Schwierigkeiten bereitet haben, Pasolini für seine Zwecke zu gewinnen. Es ist wahrscheinlich, dass die regelmäßigen Begegnungen auch der Kontinuität der Initiativen Bachmanns, deren Beweggründe später genauer thematisiert werden sollen, geschuldet sind. Die Eventualität des praktischen ’Nutzens’ von Interviews schließt aber auch der selbstlose Pasolini nicht aus: Aber Nutzen wozu?
Hier drängt sich zunächst einmal der Gedanke an Pasolinis Interesse an einer internationalen Berichterstattung über seine Arbeit auf. Zum Zeitpunkt ihrer Bekanntschaft 1961 hat Bachmann im Filmbereich bereits seine Erfahrungen gesammelt, war seit 1955 Herausgeber der Zeitschrift Cinemages, Leiter der Radiosendung Film Forum für amerikanische Sendestationen... Er hatte Beziehungen.[25] So tritt er mitunter auch als Film-Korrespondent bedeutender Tageszeitungen, wie der Zeit, der FAZ, der Neuen Zürcher Zeitung auf. Wie Roberto Chiesi in seinem Beitrag nahelegt, spielt dieser Aspekt für die Erklärung der Beziehungen zwischen Pasolini und Bachmann keine unwesentliche Rolle: Bachmann erweist sich für Pasolini als potentieller Kanal zur europaweiten Verbreitung von Berichten über seine Projekte und Gedanken[26].
In Anlehnung an Bourdieu und seinen ökonomischen Figuren der Darstellung des Kulturbetriebs lässt sich hier durchaus von einer strategischen Allianz sprechen: Bachmann borgt bei Pasolinis symbolisches Kapital, um sich damit im Feld des Filmwesens zu positionieren, dieser wiederum profitiert davon, von Bachmann ’verhandelt’ und damit über Bachmanns Netzwerke weitervermittelt zu werden.[27] Wohlgemerkt, die effektiv in der ausländischen Presse realisierten Gespräche zwischen den beiden machen eine nur sehr geringe Anzahl aus.[28] Aber davon einmal abgesehen, fragt sich auch unter anderen Gesichtspunkten, ob und inwiefern die von Bachmann verwirklichten Interviews dem mutmaßlichen Zweck der internationalen Verbreitung von Pasolinis Fama überhaupt dienlich waren. Anders ausgedrückt, damit der Nutzen wechselseitig ist, muss Pasolini in die Fähigkeiten seines Korrespondenten vertrauen, die Bedeutung seines Schaffens zu erfassen, also nicht ’unter seinem Wert’ zu verhandeln. Hiervon hängt nicht zuletzt die Ergiebigkeit ihrer zur Veröffentlichung bestimmten Gespräche ab. Aber gerade die Sensibilität Bachmanns, oder besser, seine Bereitschaft zur Sensibilität gegenüber der Arbeit und den Gedanken seines Gegenübers stellt Probleme (vgl. auch infra, 7. Abschnitt).
Die 17 (bzw. 13) Gesprächsaufzeichnungen vermitteln tatsächlich oft nicht den Eindruck von Unmittelbarkeit im gegenseitigen Verstehen. Ein solcher Umstand ist, zumal was die ersten Gespräche im Jahr 1963 betrifft, sicher nachvollziehbar. Zwar lebt Bachmann seit zwei Jahren in Rom und nimmt am gesellschaftlichen Leben der Hauptstadt Teil, er bleibt aber ein Außenseiter, der den Diskurs der italienischen Intellektuellen, seine besonderen sprachlich-konzeptuellen Voraussetzungen erst erschließen muss. In diesem Sinne stehen die ersten vier Begegnungen, in den Jahren ’63-’65, sicher auch im Zeichen eines Annäherungsversuches, der beiderseits nicht ohne Missverständnisse auskommt. Dies verdeutlicht bereits das erste Zusammentreffen, als Bachmann Pasolini dessen “nicht korrekte Antwort auf seine Frage“ vorhält[29]– und damit, nebenbei gesagt, einem eher eigenartigen Verständnis seiner eigenen Rolle als Interviewer Ausdruck gibt (hierzu später mehr). Stellen wie diese sind nur Höhepunkte in einem insgesamt schwerfälligen, von rhythmischen Diskontinuitäten gezeichneten Gespräch, in der beide Seiten viel Aufwand betreiben müssen, um das Gegenüber in Kenntnis des eigenen begrifflichen Rahmens zu setzen.
Pasolini thematisiert diese Dyskrasie einer bestimmten Stelle mit der Feststellung, “[n]on riusciamo a far coincidere i nostri linguaggi, perché evidentemente lei proviene da una cultura molto diversa dalla mia“ (dass er Bachmann in Folge mit einem ausschließlich amerikanischen Hintergrund identifiziert, wirft im Übrigen die Frage seiner effektiven Kenntnisse über den in Wirklichkeit komplexeren kulturellen Hintergrund Bachmanns auf).[30]
Gegenüber der Sprachkultur der italienischen Intellektuellen bleibt Bachmann auch in Folge immun. Von den sehr allgemeinen Bezügen zum Marxismus und Katholizismus einmal abgesehen, weist sein Diskurs so gut wie keine Spuren auf, die auf eine nähere Auseinandersetzung mit den Debatten der 60er Jahre verweisen – Togliatti, das Geschick des PCI nach Togliattis Tod, die Veränderungen in der sozialen Struktur Italiens in Folge des sogenannten ’Miracolo economico italiano’, die von der Neoavanguardia rund um Eco, Sanguineti, Arbasino angeregten Kontroversen, um nur einige Anhaltspunkte zu nennen.[31] Auch weiß er entsprechende Anspielungen in Pasolinis Ausführungen nicht zu dechiffrieren, sie zu verarbeiten und weiter zu spinnen. So scheint beispielsweise nicht, dass sich Bachmann der semantischen Resonanzen des von Pasolini verschiedentlich verwendeten Begriffs der ’Stilmischung’ bewusst ist – ein Begriff, der zum terminologischen Spektrum von Pasolinis kritischer Reflexion gehört. Hätte sich Bachmann über seine unmittelbaren Interessen für den italienischen Film hinaus mit Pasolini auseinandergesetzt, hätte er darin nicht zuletzt den Verweis auf Leo Spitzer, wie auch auf Erich Auerbach und damit eine philologische Diskussion erkannt, in die am Rande auch Pasolini verwickelt war.[32] Ähnliche Beobachtungen ließen sich zum narratologischen Begriff des discorso libero indiretto (erlebte Rede) machen[33], oder zu den figurativen Bezügen, die wiederum auf Pasolinis kunsthistorische Initiation durch Roberto Longhi verweisen, etc. etc.
Streng genommen bleibt offen, inwiefern die ungenutzten Gelegenheiten einer Vertiefung des Gesprächs entsprechend der Vorgaben Pasolinis effektiv auf Unkenntnis schließen lassen und nicht vielmehr der bewussten Strategie Bachmanns, Verbindungen zum aktuellen Diskurs, vor allem italienischer Linksintellektueller, zu denen er auf Distanz ging, strikt zu vermeiden. Wahrscheinlich ist, dass Bachmanns auch mit der Zeit unverändert gebliebener Abstand zu den literati, zu ihrer Rhetorik und ihren Themen, auch seinem sehr persönlichen Drang nach Unabhängigkeit von übergeordneten gesellschaftlichen Kategorien entsprechen kann, bzw. der Unfähigkeit, dem narzisstischen Anspruch auf die Position des Einzelfalls (des jüdischen Einzelkinds?[34]) zu entsagen. Unabhängigkeit und Einsamkeit liegen dicht beieinander, und letztere war mitunter der Preis, den Bachmann bezahlen musste, wider Willens, wie die bittere Verachtung, die er am Ende seines Lebens der italienischen Intelligentia entgegenbrachte, zeigt.[35] Aber damals noch, zur Zeit der Konversationen mit Pasolini, so scheint es, war seine Ungebundenheit ein Privileg. Sie war das Merkmal, das ihn vom Gros jener Journalisten differenzierte, die Pasolini in seiner Histoire du Soldat als “cretin[i] piccolo-borghesi“ bezeichnet, und das er im Gespräch in Form einer geradezu snobistischen Gleichgültigkeit gegenüber dem italienischen Tagesgeschäft stark macht. Für eine öffentliche Person wie Pasolini, “schiacciat[o] sulla cronaca“ – wie Giovanni Raboni einmal mit Bezug auf dessen Dichtung gesagt hat[36] –, mag das Gespräch mit einem Outsider wie Bachmann, frei von den Vorurteilen und Zwängen des nationalen Diskurses, eine befreiende Erfahrung gewesen sein. Eine in diesem Sinne verstandene ’Unschuld’, verbindet übrigens alle von Pasolini für längere Interviews akzeptierte Journalisten.
Das Ausbleiben vertikaler Bezüge zu Pasolinis Arbeit und dessen aktueller politischer Bedeutung, birgt also Vorteile, wie die Möglichkeit zur Entwicklung eines Gesprächs über die Grenzen italienischer Binneninteressen hinaus. In Bachmanns Fragen gibt es Ansätze, diese Leerstelle zu kompensieren, das heißt den Bezugsrahmen zu Gunsten von internationalen Themen auszuweiten. Ein in diesem Sinn vielversprechender Versuch ist Bachmanns Anspielung auf einen zeitgenössischen Theoretiker, Siegfried Kracauer, den Bachmann auch persönlich kannte.[37] Andere Namen sind Peter Bogdanovich, Dalì und Buñuel, William Morris... Es handelt sich aber generell um eher flüchtige Andeutungen, die weder in den Fragen Bachmanns, noch im Gesprächsverlauf an Konsistenz gewinnen. Insgesamt thematisiert Bachmann keine Fragen, die auf den Diskurs der 60er Jahre schließen lassen – der Algerienkrieg und dessen Folgen, Milo Forman, der Schriftstellerkongress, Adorno, die Frankfurter Schule, die Nouvelle Critique etc. Die Begegnungen zwischen Bachmann und Pasolini wollen sich somit nicht richtig zu einer historisch aufschlussreichen Auseinandersetzung unter Intellektuellen entwickeln.
4. Diskontinuität, Autoreferenzialität und andere Unregelmäßigkeiten: Zu den strukturellen Merkmalen der Bachmann-Gespräche
Tatsächlich weisen Bachmanns Fragen einen auffällig hohen Abstraktionsgrad auf. Man kann den Eindruck gewinnen, er sei darauf bedacht, in Pasolinis Antworten einen überzeitlich tieferen Sinn fixieren und andererseits sein Selbstbild als “homme au-dessus de la mêlée“ reflektieren zu wollen. Nicht selten fallen seine Interventionen dadurch aber auch gegenstandslos und banal aus, sie entbehren eines eindeutigen Anhalts- und Fluchtpunkts. So dass es jeweils ganz an Pasolini liegt, die vage Ausgangslage in den Fragen Bachmanns zu erfassen und zu gehaltvollen Antworten auszugestalten.
An anderen Stellen sind Bachmanns Anliegen wiederum von einer unerwarteten Spezifik, die allerdings selten im objektiven Bezug zu den Erläuterungen Pasolinis stehen. Vielmehr scheinen sie in Bachmanns eigenen Interessen, in einem parallel zu den Antworten seines Gegenübers entwickelten Tagtraum motiviert zu sein. Mit anderen Worten vermittelt Bachmann stellenweise den Eindruck, als folge er einem von Pasolinis Ausführungen unabhängigen Ideenstrang. Dieser weist zwar einige Konstanten auf, z. B. das Interesse für die Reaktionen des Publikums; die Frage nach dem Aktualitätsbezug von Pasolinis Schaffens, die dermaßen oft rekurriert, dass sie einer Art Forderung gleichkommt; sein Glauben an die gesellschaftsverändernde Kraft von Kunst (kaum zufälligerweise alles Themen, die Bachmann selbst beschäftigten). Sie lassen dennoch keine klare Struktur erkennen lässt, sondern scheinen intuitiv, einer eigenen inneren Unruhe Ausdruck zu geben. Auch in diesen Fällen, liegt die Verantwortung der Gesprächsgestaltung, insbesondere was das Thema der Gespräche betrifft, bei Pasolini selbst. Auch hier ist er es, weniger Bachmann, der dem Gespräch eine Art Faden gibt, manchmal indem er dessen logisch widerspenstigen Erwiderungen in seine Reflexionen integriert, manchmal indem er sie schlicht ignoriert und zu Gunsten seines eigenen Gedankenverlaufs überspringt.
Vor dem Hintergrund der bereits gemachten Feststellungen zur insgesamt sehr eigenwilligen Figur der Bachmann-Gespräche, bietet es sich an, diese zu systematisieren und anhand einer Reihe struktureller Konstanten zu beschreiben, die zum einen die Komponenten der Frage/Antwort getrennt, zum anderen die sogenannten Paarsequenzen oder die Gesprächsstruktur insgesamt betreffen:
- Lose bis fehlende Bezüge in der Fragestruktur und in den Paarsequenzen
Bachmann wechselt den Themen- oder Problemkreis oft von Frage zu Frage, ohne diese entlang einer eindeutigen thematischen Linie zu organisieren. Das Gespräch entwickelt sich damit nicht selten in einer von Sequenz zu Sequenz losen Abfolge, in der also die Fragen nicht notwendigerweise miteinander verkettet und auch nicht unbedingt in der vorangehenden Ausführung Pasolinis verankert sein müssen.
Ein typisches Beispiel findet sich im zweiten Teil der Gespräche vom 11. Juni 1965: hier stellt Bachmann zunächst eine Frage synchronischen Interesses, insbesondere zur Autor-Werk Beziehung (“Lei ha l’impressione di mettere sempre se stesso in un personaggio nel film?“); die nächste Frage verschiebt den Schwerpunkt hingegen unvermittelt auf eine allgemein diachronische Ebene (“Come definirebbe la sua posizione nella storia del cinema italiano [...]?“).[38] In Folge der inzwischen 10jährigen Bekanntschaft, scheint der Gesprächsverlauf dadurch natürlicher, so beliebt es Bachmann mit seinen Fragen dennoch immer wieder thematische Haken zu schlagen, die eine Kohärenz über mehrere Sequenzen oft nicht ermöglichen. Noch in den allgemein eher einheitlicheren Salò-Gesprächen (die vier Interviews aus dem Frühjahr 1975) trifft man auf entsprechende Stellen. Zum Beispiel im Gespräch vom 28. April 1975, als eine intensive, vierteilige Abfolge von Frage und Antwort zum Thema “Hoffnung auf gesellschaftliche Veränderung“, urplötzlich von einer abstrakten Frage zu Pasolinis Arbeitsweisen unterbrochen wird.[39] Daraus ergibt sich wiederum die insgesamt typische:
- Sprunghaftigkeit und horizontale Gesprächsentwicklung
Die logisch sprunghafte Art der Interviewführung erschwert oft eine ’organische’ Entwicklung des Gesprächs (siehe u., ’Zäsuren/Diskontinuitäten’), insbesondere im Sinne einer Vertiefung. So gleiten die Interviews vor allem in den ersten Jahren, bis 1965, entlang einer Oberfläche, von Interessenbereich zu Interessenbereich, meist ohne diese in vertikaler Funktion oder im Hinblick auf eine thematische Dominante zu entwickeln. Die horizontale Dynamik des Gesprächs erfolgt auch daraus, dass Bachmann die Aussagen Pasolinis nicht zur strikten Voraussetzung für seine Fragen macht oder deren Inhalte relativ arbiträr markiert. Es sind somit eher nicht die Ausführungen Pasolinis, die Anlass zur Wanderung von Thema zu Thema geben, sondern vielmehr die (augenscheinliche) Willkür des Fragenden. Daraus ergibt sich das insgesamt auffallendste Strukturmerkmale der Bachmann-Gespräche, zumal in den Jahren 1963-65, nämlich die:
- Zäsuren, Diskontinuitäten
Bachmanns Fragen stehen zu den Ausführungen seines Gegenübers, wie gesagt, in einem ungezwungenen Verhältnis. Und nicht selten haben sie gegenüber den Ausführungen Pasolinis die Wirkung einer Zäsur. Das heißt, sie unterbrechen diese, unabhängig von ihrem jeweiligen Potential, von den darin sich neu ergebenden Fragen.
Dies lässt unterschiedliche Erklärungen zu. So kann Bachmann hiermit zum Beispiel seine Position in der Gesprächshierarchie definieren, bzw. er kompensiert die im herkömmlichen Interview subalterne Position des Fragenden mit dem Privileg der Bestimmung des Gesprächsverlaufs.[40] Diese mutmaßlich psychologische Determination der Gesprächsgestalt, das heißt Bachmanns Weigerung, die Konventionen des Interviews zu respektieren (vgl. infra, 7. Abschnitt) bildet auch den Hintergrund zu einer weiteren möglichen Erklärung der logischen Diskontinuitäten in der Frage-Antwort-Struktur:
- Assoziationslogik und latente Autoreferenzialität
So sind die Beiträge Bachmanns womöglich nicht willkürlich oder per se bezugslos, vielmehr scheinen sie den nicht offenkundigen Zusammenhängen seiner Gedankenwelt zu folgen, die sich ihm unter dem Eindruck der Aussagen Pasolinis aufdrängen. Seine Fragen folgten somit Assoziationen, die sich parallel zum eigentlich geführten Gespräch ergeben und denen er, dem Bedürfnis nach Klärung seiner eigenen Obsessionen folgend, nachhängt.
Das verdeutlicht zum Beispiel eine Stelle im Gespräch vom 13. September 1974, als Bachmann, wie aus den eigenen Phantasien erwachend, einen Gedanken äußert, der zu Pasolinis Antwort parallel, in relativ loser Beziehung steht: “C’è una cosa che penso da molto tempo. [...]“, ein Verweis auf das, was ihn selbst umtreibt und was er in Folge (in einer verhältnismäßig langen Sequenz) zu erläutern versucht. Das Beispiel bestätigt noch einmal, dass Bachmann das Interview auch als Ort versteht, in dem konventionelle Hierarchien im Idealfall aufgehoben, der eigentlich Befragte plötzlich zum Zuhörer wird, der im besten Fall einen Beitrag zu Bachmanns eigenem Ringen mit der Wahrheit leisten soll.
Dieser letzte Umstand ist zentral. Und bestimmt er den Gesprächsverlauf auf der Makroebene, im oben beschriebenen Sinn, so kann er an bestimmten Stellen punktuell zum Vorschein kommen, nämlich dort, wo Bachmanns Fragen unscharf ausfallen, er mehrere Anläufe und Reparaturversuche unternehmen muss, um diese zu artikulieren.
Im Gespräch vom 13. September 1974 reagiert Bachmann auf eine im Freibeuterdiskurs topische Überlegung zur anthropologischen Revolution mit einer Bemerkung, die nicht als Frage, sondern als Reflexion formuliert ist. Mit ihr versucht er einerseits, Pasolinis Aussage in eigenen Begriffen zu verinnerlichen, sie andererseits weiterzuentwickeln. Während nun Pasolinis Reflexion druckreif ist, entspricht Bachmanns Reflexion einer Abfolge von Aussagen, die Pasolinis argumentative Stringenz zu imitieren scheint, dabei aber weder begrifflich noch im Hinblick auf die logischen Zusammenhänge klar ausfällt:
Pasolini: [...] In tutte le società c’è stata l’iniziazione. […] Non c’è iniziazione alla società dei consumi; il bambino nasce già consumatore. I giovani hanno la stessa autorità di consumatori degli adulti e degli anziani.
Bachmann: I giovani d’oggi non s’identificano più come ‘gruppo’, con slogan codificati, vale di più il comportamento ‘diffuso’ della loro vita comune: allora, forse, anche la religione e i sentimenti della gente non possono più essere codificati in movimenti, in chiese… Forse il disfacimento della Chiesa è l’inizio di un decentramento del sentimento religioso…
Die semantische Unbestimmtheit eines Ausdrucks wie “il comportamento ’diffuso’, della loro vita comune“, die im Kontrast steht zum assertiven Charakter, der in diesem Fall die Unsicherheit maskiert; die aus der a priori unscharfen Behauptung abgeleitete Folgerung (“allora“), die logisch-argumentative Schlüssigkeit vortäuscht; die doppelte Mutmaßung, zweimal begleitet von einem relativierenden “forse“: All dies zeigt nicht (unbedingt) sprachliches Unvermögen, vielmehr handelt es sich um Signale von Bachmanns Suche nach Aneignung, bzw. Ausweitung eines begrifflichen Horizonts. Sie markieren seinen Versuch, eine Intuition sprachlich zu fixieren und suggerieren seine beständige Unruhe im Verstehen.
Stellen wie diese suggerieren, wie für Bachmann das Zusammentreffen mit Pasolini mitunter nicht (nur) dem Interview dienlich ist, sondern eine Gelegenheit, seine Intuitionen, sein “kulturelles Unbehagen“ auszudrücken, zu teilen, zu läutern. Auch offenbaren sie, wie Bachmann auch, und wahrscheinlich gerade im Beisein der interviewten Größen, mit sich selbst beschäftigt bleibt – zum Verständnis seines Schaffens grundlegender, in sich paradoxaler Aspekte, nämlich die symbiotische Bedingung, an die Bachmann die Verwirklichung seiner selbst knüpft (vgl. infra, 7. Abschnitt). Mit anderen Worten, Bachmann ’missbraucht’ das Interview und sein Gegenüber zu seinem eigenen Zweck. Auch folgendes Merkmal lässt sich womöglich in diesem Zusammenhang verstehen:
- Wiederholungen, “fino alla nausea“
Das Bedürfnis, der eigenen Vorstellungswelt näher zu kommen, führt Bachmann mitunter dazu, den Diskurs seines Gegenübers in die entsprechende Suche zu verwickeln. Bleibt seine Erwartung unerfüllt, so insistiert er – wie weiter oben schon angedeutet – auf seiner Ausgangsfrage, indem er die Ausführungen seines Gesprächspartners entweder ignoriert oder ihre Pertinenz bestreitet.
“Non è la risposta esatta alla mia domanda“, entgegnet er Pasolini schon zu Beginn ihrer ersten Interviewbegegnung. Mit der hier (absurderweise) postulierten “exakten Antwort“ beansprucht Bachmann gleich zu Beginn das Recht auf die Verteilung der Gesprächsrollen, sowie das Recht zur Bestimmung des Gesprächszwecks. Pasolini wird hier implizit dazu aufgefordert, ihre Treffen nicht (nur) als Interviews, in denen es um dessen Person und Werk geht, zu verstehen, sondern auch als Gespräche, an die Bachmann bestimmte Erwartungen im Hinblick auf seine persönliche ’Suche nach Wahrheit’ knüpft. Wird diese Erwartung enttäuscht, so wiederholt er seine Frage, entweder explizit, wie im zitierten Beispiel, oder implizit, indem er sie variiert.
Gerade die Salò-Gespräche zeichnen sich durch die auffallende Wiederholung von immer wieder denselben Frage-Antwort-Sequenzen aus. In etwa als hoffte Bachmann darauf, den tieferen Sinn von Pasolinis Aussagen zum Film in der Bandbreite ihrer Variationen zu fixieren, konfrontiert er Pasolini mit Fragen, die diesen zu längst bekannten Stellungnahmen zwingen, ja die selbst aus den Versatzstücken von Pasolinis öffentlichen Diskursen fabriziert sind. Dies bestätigt eine Bemerkung Pasolinis im Gespräch vom 2. April 1975, in der er seinen Missmut gegenüber Bachmanns Vorgehen offen signalisiert und dessen Frage zur kommerziellen Degeneration der “sexuellen Befreiung“ als müßig entlarvt: “Mi fai questa domanda per farmi ripetere cose che ho detto fino alla nausea! Tanto lo sai cosa ti rispondo“.[41] Diese für das Gespräch sterilen Momente zwingen Pasolini mitunter dazu, den Diskurs in Eigeninitiative zu gestalten. Das Zwiegespräch mutet dadurch stellenweise an wie ein Selbstgespräch:
- Monologische Sequenzen
Entbehren Bachmanns Fragen jener inhaltlichen Motivation, die für die dialektische Vertiefung des Gesprächs notwendig sind, so kompensiert Pasolini entsprechende Leerstellen, indem er seinen Diskurs entsprechend des jeweiligen Themas autonom ausgestaltet. Einwürfe Bachmanns können dabei entweder ausgeblendet oder zur rein pragmatischen Wahrung der Konversationslogik integriert werden.
Die entsprechende Situation erreicht einen beispielhaften Höhepunkt im Gespräch vom 13. September 1974, in einer überdurchschnittlich langen Ausführung Pasolinis, die ihre Motivation nur bedingt in der typisch unspezifischen, ungezwungenen Ausgangsfrage Bachmanns hat (“Stai progettando un altro film?“). Angesichts der schwachen Position Bachmanns, übernimmt Pasolini dessen Rolle, bzw. integriert sie rhetorisch in seine Ausführungen und formuliert eine Frage an Bachmanns statt: “Tu mi chiederai perché io faccia proprio in questo momento un film così spaventosamente negativo e polemico contro la Chiesa: [...]“.[42]
Aber nicht nur die zeitweilige Gegenstandslosigkeit von Bachmanns Fragen, sondern auch die mutmaßliche geistige Abwesenheit, das heißt der bereits angedeutete Hang zur Fixierung intimer Zusammenhänge kann dazu führen, dass sich innerhalb des Gesprächsrahmens, logisch diskrete, quasi autonome Sequenzen entwickeln, die keine dialogischen Bedingungen mehr zu erfüllen scheinen, sondern wie Monologe zu lesen sind. Es scheint dann tatsächlich, als sprächen Bachmann und Pasolini vorübergehend ’aneinander vorbei’.
Zum Beispiel in einer Sequenz vom 13. September 1973, als Bachmann aus seiner Rolle tritt, um “seine Meinung“ zu artikulieren, und zwar in einer in sich geschlossenen, für die klassische Interviewsituation unverhältnismäßig langen Ausführung.[43] Auch der darauffolgende Turn weist seinerseits keinen Bezug zum vorangehenden auf, das heißt Pasolini lässt Bachmanns Meinung im Raum stehen und greift seinen im Vorfeld formulierten Gedanken wieder auf: Die sogenannten Turns verlaufen hier also diskret, bilden keine Paarsequenz und erfüllen die Vorbedingung eines jeden Gesprächs, nämlich die Intersubjektivität, nicht. Natürlich handelt es sich hierbei nur um vorübergehende Momente. Sie dokumentieren im Übrigen nicht einfach Beziehungslosigkeit, sondern können vielmehr als spezifische Variante einer Form der Beziehung betrachtet werden, die den Austausch zwischen Pasolini und Bachmann wesentlich prägt:
- Agon
So kann die lose oder fehlende Bindung innerhalb der Paarsequenzen auch die gesteigerte Form einer kompetitiven Gesprächsdynamik sein. Die explizite und, je nach dem, neutralere Form einer solchen ist der Ausdruck eines Widerspruchs, wie er beiderseits nicht selten auftritt. Hierfür weit weniger bedeutsam sind die Antworten, in denen Pasolini die Informationen in Fragen Bachmanns oder etwaige Annahmen korrigiert. Auffällig sind vielmehr die Sequenzen, in welchen der eine oder andere Gesprächsteilnehmer den assertiven Kern und damit die konzeptuellen Grundlagen des Anderen bestreitet.
Dies geschieht zum Beispiel, als Pasolini im Gespräch vom 13. September 1974 Bachmanns Überlegung über das Fehlen einer kapitalistischen Jugendbewegung als nicht exakt taxiert, diese Berichtigung eine Reihe von Sequenzen zur Folge hat, in denen jeder seinen Anspruch auf die Richtigkeit seiner Kapitalismus-Analyse geltend macht.[44] Dass Bachmann seinen Einwand gleich dreimal mittels des explizit adversativen “aber“ markiert, macht den hier zitierten Fall besonders bedeutsam, führt er doch vor Augen, dass Bachmann ein Recht auf Gleichberechtigung im Gespräch behauptet.
Der Umstand wäre nicht per se außergewöhnlich, gehört ein gewisser argumentativer Agon doch ohne weiteres zu einer möglichen Form der Gesprächsdynamik. Vor dem Hintergrund der hier vorliegenden Situation – ein Interview –, das einem übergeordneten Zweck dienen sollte und eine a priori festgelegte Rollenverteilung vorsieht, ist das hartnäckige Festhalten Bachmanns an seinen Standpunkten eher sonderbar.
5. Bachmann vs. Duflot und Hallyday
Die Liste der inhaltlich-formalen Charakteristika der Bachmann-Gespräche ließe sich ohne Weiteres ergänzen, jedoch dürfte bereits an dieser Stelle deutlich geworden sein, dass sie in einem frappanten Kontrast zur Typologie ’Interview’ stehen. Dies verdeutlicht nicht zuletzt der direkte Vergleich mit Duflot oder Hallyday, die in ihren Gesprächen den konventionellen Anforderungen dieser Typologie, jeder auf seine Art, eindeutiger entsprechen.
Bereits der Blick auf die Makrostruktur der jeweiligen Interviewbände suggeriert ein im Vergleich zu den Bachmann-Gesprächen transparentes Ordnungskriterium. So organisiert Duflot die 21 Kapitel seines Interviewbands kohärent nach Themenbereichen, die ihrerseits einem diachronischen Prinzip folgen: Pasolinis kultureller Hintergrund; sein Werdegang von der Literatur zum Film; seine Beziehung zu Religion und Mythos; seine Poetik.[45] Auch Hallydays Fragen sind so gestaltet, dass sie das Profil von Pasolinis (Film-)Schaffen in eindeutig diachronisch markierter Funktion nachzeichnen (ein einleitendes Kapitel zu Pasolinis kulturellem Hintergrund und zwei finale Kapitel zur Filmpoetik bilden den Rahmen für eine Abfolge von acht Kapiteln, die der Reihe nach je einen seiner Filme aus den Jahren 1963-1967 in der Überschrift tragen).[46]
In beiden Fällen geben Inhaltsverzeichnisse bzw. Überschriften unzweideutig Auskunft über das thematische Spektrum der jeweiligen Konversationen. Diese wiederum bleiben, wie sich bei der Lektüre ergibt, strikt themenzentriert und lassen wenig Raum für Digressionen. Dieser makrostrukturellen Ordnung entsprechen auf der Ebene der jeweiligen Gespräche die Kohärenz sowie die logische Artikulation der Fragen. Die von den Autoren hergestellten Bezüge zu Werk und (internationaler) Aktualität sind präzise und legen eine im Vorfeld vertiefte Auseinandersetzung mit der ’Materie Pasolini’ nahe. “Lei è proprio una furia a rammentarmi cose che avevo dimenticate“, wie Pasolini gegenüber Hallyday sagt, als er ihn mit einer Aussage eines Artikels aus der Zeitschrift Officina aus dem Jahr 1956 konfrontiert.[47] Diese und ähnliche Anhaltspunkte suggerieren für beide Fälle einen im journalistischen Sinn professionellen Umgang mit dem ’Interview’. Für beide gilt, was Gian Carlo Ferretti über das Duflot-Interview sagt, ”che può essere assunta come una buona introduzione alla conoscenza dell’opera e della personalità pasoliniana”.[48] Genau hier liegt eine entscheidende Diskriminante, insofern die Bachmann-Gespräche einer einleitend-informativen Funktion nicht in diesem Ausmaß entsprechen können.
Das hat zunächst mit den unterschiedlichen Ausgangslagen zu tun. Im Unterschied zu den erwähnten Beispielen sind Bachmanns Interviews, wie bereits gesagt, nicht Teil eines a priori konzipierten Gesprächszyklus, der in einheitlicher Form veröffentlicht werden und dabei der Anforderung entsprechen sollte, ein Gesamtporträt von Pasolini zu vermitteln. Es handelte sich um Einzelgelegenheiten, die zu sehr unterschiedlichen Momenten stattfanden. Erst im Lauf der 70er Jahre verkürzen sich die Abstände der Begegnungen, parallel zur inzwischen gereiften Absicht Bachmanns, eine Pasolini-Dokumentation zu realisieren. In diesem Sinn lassen erst die Salò-Gespräche aus dem Frühjahr 1975 ein einheitliches konzeptuelles Substrat erkennen.
Abb. 2. Auf dem Set von Salò (Fotografien v. Deborah Beer)
Aber auch hier, wo die Begegnungen eine Art Fluchtpunkt besitzen, lässt sich keine eindeutige Ordnung feststellen, die Bachmanns Interesse an einer leserfreundlich informativen, ’initiatischen’ Funktion seiner Interviews in irgendeiner Weise offenbaren würde. Es genügt, einen Blick auf die (redaktionellen?[49]) Titel zu werfen, um sich zu vergewissern, dass die Gespräche thematisch keiner logischen Artikulation folgen: Il potere mercifica i corpi; De Sade e l’universo dei consumi; Nulla è più anarchico del potere; Il potere oggi: la manipolazione totale. Die begriffliche Monotonie in den Titeln ist bezeichnend für die quasi obsessiv monothematische Prägung der Gespräche. Sie sind repetitiv, bewegen sich magmatisch rund um immer dieselben Salò-affinen Gegenstände.
Natürlich spiegelt dies auch Pasolinis Wirkungsspektrum, seine in den letzten Jahren ebenso obsessive Kulturkritik, wieder. Bachmanns Interviewverhalten trägt aber nichts dazu bei, die thematisch-ideologische Klaustrophobie Pasolinis zu durchbrechen (wie es zum Beispiel im sogenannt ’letzten Interview’ mit Furio Colombo geschieht, in dem dieser versucht, Pasolini herauszufordern und in eine regelrechte Diskussion über seinen vermeintlichen Pessimismus zu verwickeln, woraus sich ein völlig anderer, intensiverer Gesprächsrhythmus ergibt[50]). Seine Fragen bewegen sich, genau wie das Gespräch insgesamt, innerhalb eines relativ engen Themenkreises, anstatt die inhaltlichen Möglichkeiten in ihrer ganzen Bandbreite systematisch, zu Gunsten einer leserorientierten, didaktischen Information auszuloten.
Roberto Chiesis Behauptung, wonach sich Bachmann intellektuell schlicht nicht auf der Höhe Pasolinis befand, seinen Äußerungen, mit all ihren Widersprüchlichkeiten somit nicht gewachsen war, mag ihre Berechtigung haben.[51] Auch mag das geistig-rhetorische Ungleichgewicht mitausschlaggebend sein für die formale Außergewöhnlichkeit der Bachmann-Interviews, wie oben beschrieben, im Sinne einer fehlenden Inter-Aktion. Die scheinbar unreflektierte, desorganisierte, im Resultat magmatische und insgesamt ziellose Natur der Bachmann-Gespräche lässt sich aber auch anders erklären. Nämlich als Resultat einer an und für sich sehr eigenen Auffassung vom Interview – eine Auffassung, die zunächst einmal aus einer intuitiven, später mehr und mehr auch einer bewussten, und programmatisch behaupteten Praxis resultiert.
6. “Non ho delle idee precise...“ oder: Das Interview als Essay
Die Ausgangslage aller Bachmann-Interviews, die jeweils auch deren Verlauf strukturiert, ist e contrario das Fehlen einer bestimmten Ausgangslage. Interviews à la Duflot oder Hallyday setzen ein Raster oder das, was Primo Levi zum Auftakt einer Konversation mit Giovanni Tesio, einen “piano di battaglia“ nennt.[52] Sie entwickeln sich logisch von einem Punkt A zu einem Punkt B. Bachmann hingegen hat keinen “piano di battaglia“. Die Voraussetzung und strukturelle Ziffer seiner Gespräche ist die Offenheit.
Das Incipit, also die Ausgangsfrage ist hierfür absolut symptomatisch, insofern sie quasi nie eine Ausgangslage konfiguriert, sondern ex abrupto, wie der plötzliche Mitschnitt eines schon im Vorfeld entwickelten Gesprächs erscheint. So lautet die erste Frage des Gesprächs vom 11. Juni 1965, das (scheinbar) nach immerhin fünf Monaten Gesprächs-Pause erfolgt, ganz unvermittelt, ohne jedwede Bemühung um die Herstellung eines pragmatischen, örtlich-zeitlichen Gesprächsrahmens: »È vero che Lei ha scelto il cinema per la necessità di raccontare la realtà?“.
Diese ex abrupto-Strategie, mit der ihr zu Grund liegenden, brüsken Auswahl eines Themas, ist nicht etwa Zeichen von Determination, als vielmehr einer völligen Unvoreingenommenheit: Bachmann scheint da zu beginnen, wo ihm grade der Geist steht, ohne daran bestimmte Voraussetzung zu knüpfen. Das heißt, ohne seine Eingangsfrage zum konstitutiven Element einer verbindlichen Themenkonstruktion zu machen. Sein Vorgehen ist in diesem Sinne essayistisch, es gleicht dem Vorgehen Montaignes, der zur Wahl seiner Themen behauptet, “tout argument m’est egallement fertille. Je les prens sur une mouche“ (Essais, III, V).
In der Willkür der Wahl wird der Anspruch auf absolute geistige Freiheit behauptet.[53] Diese Freiheit ist aber nicht Selbstzweck, sondern vielmehr notwendige Voraussetzung, eines in seinem Ziel unbestimmten Strebens – einer grundlegenden, letztlich unerfüllbaren kulturellen Unruhe. Nicht dem Thema scheint das eigentliche Interesse Bachmanns zu gelten, sondern dem, was das Gespräch über dieses Thema in der menschlichen Beziehung, insbesondere in seinem Gegenüber offenbart.
Die in einem Interview vom Herbst 1972 (sieben Jahre, so scheint es, nach der letzten Gesprächsgelegenheit, 1965!) gleich am Anfang gemachte Bemerkung, wonach Bachmann eigentlich nicht weiß, was er Pasolini fragen soll, ist nur die umgekehrte Seite derselben Medaille: “Non ho delle idee precise. Un giornale tedesco mi ha chiesto di fare il punto sul momento attuale di due o tre artisti importanti italiani […]”.[54] Bachmanns Nonchalance mutet überheblich und als solche wiederum fast komisch an, bei Pasolini stößt sie überdies auf eindeutige Ablehnung (“Tu sai che io non sono uno che cominci a chiacchierare dal nulla“). Und möglicherweise steht sie in Funktion eines Self-Fashioning; der Ausstellung seines notorischen Freiheitsanspruchs (Bachmann, der von den Zeitungen international gesuchte, aber von Auflagen völlig befreite Freelancer...). Es handelt sich aber auch um eine ehrliche Erklärung, die einen Einblick in seine persönliche Vorstellung vom Interview gibt, so wie er sie im Lauf der Zeit zu rationalisieren, also zu einer Art Methode werden lässt.
7. “Parlare, semplicemente parlare...“. Bachmanns journalistische Ab-Art und ihre möglichen Ursachen
Dies bestätigt zum Beispiel der unfreiwillige Mitschnitt auf dem Set von Salò im April 1975, als es zu einer längeren Verhandlung, mitunter auch über die Modalität, in der die Begegnungen zwischen Pasolini und Bachmann stattfinden sollen, kommt. Dabei lässt Bachmann seine eigentliche Absicht, quasi eine Sehnsucht durchscheinen, ihre Gespräche nicht als Interview, sondern als regelrechte Gespräche, als einen Austausch zu konzipieren: “[...] lì si potrebbe semplicemente parlare. Non una vera intervista, ma semplicemente parlare“.[55] Genau derselbe Anspruch wohnt auch den einleitenden Worten inne, mit denen Bachmann fünf Jahre später ein Interview mit Fellini eröffnet:
[...] as you will have noted, we are not really doing an interview [...] and what I am thanking you for is your ability to go beyond cinema and your work and those things most journalists would be interested in […].[56]
Auch hier ist das Bedürfnis Bachmanns erkennbar, nicht in herkömmlichen Kategorien wahrgenommen, nicht mit den Anderen, den Journalisten, verwechselt, sondern als Einzelfall, mit besonderen, ungleich würdigeren Absichten wertgeschätzt zu werden. Daher auch die Weigerung, sein Tun mit dem Begriff des ’Interviews’ zu bezeichnen, bzw. sein Festhalten an den ungleich vielversprechenderen Begriffen ’Gespräch’, ’Konversation’, ’Unterhaltung’. Dass nun sein Anspruch auf Wertschätzung seiner besonderen Intentionen nicht völlig unberechtigt ist und warum, das soll in Folge gleich noch genauer untersucht werden. Zunächst gilt jedoch, Bachmanns Renitenz gegenüber der journalistischen Praxis noch einmal genauer zu hinterfragen.
Sowohl Holger Jost, als auch Riccardo Costantini unterstreichen in ihren Beiträgen die Diskrepanz der Bachmann-Interviews gegenüber der “Kategorie Interview“.[57] Für beide scheint sich diese aus dem insgesamt genialoiden Umgang Bachmanns mit Medien abzuleiten. Sicher. Nur ist der Hinweis auf Bachmanns ’Genie’ keine zufriedenstellende Erklärung für seine journalistische Eigen- oder Ab-Art. Die Frage nach den Ursachen seiner Tätigkeit bleibt offen. Die äußere Gestalt seines Interviewstils einmal beschrieben, lassen sich womöglich auch dessen tiefere Beweggründe erfassen? Die psychologischen Voraussetzungen, die Pulsionen, die Bachmanns Ab-Art über seine Intentionen hinaus mitgeformt haben? Mit dieser Frage riskiert man freilich, in die Falle genau jener zwielichtig biographischen Interessen zu tappen, die Sainte-Beuve in den Augen Prousts als Literaturverständigen in toto diskreditierten, und denen übrigens Bachmann fast ausschließlich zugeneigt war. Als Resultat einer strikt – oder eindeutiger als die Literatur – sozialen Praxis, scheint es aber interessant, Bachmanns Vorgehen, soweit als zulässig, im weiteren Kontext der spezifischen Formen seiner Beziehungen zur Außenwelt zu betrachten.
So ist doch unübersehbar, dass sich Bachmann in allem, was er tut, stets gegen die von außen möglicherweise zugewiesene Rolle stellt oder umgekehrt, stets darauf bedacht ist, eine Differenz zu markieren. Wohl gemerkt nicht im avantgardistisch radikalen Sinne (wie beim ehemaligen Mistreiter der amerikanischen ’Group for Film Study’, Jonas Mekas, der sich nicht zufällig von Bachmann und seinen Neigungen zum “populären europäischen Film“ trennte[58]). Der Bezug zur Doxa, zu den entsprechenden sozialen Kategorien muss nachvollziehbar, Bachmanns Tun zu ihr in einer logischen Reichweite bleiben, die die Wertschätzung seiner Besonderheit seitens der Gemeinschaft zulässt. Den Mut, radikal anders zu sein, besitzt er nicht und er bedeutet ihm auch nichts. Die Vorstellung eines Lebens in Konformität zu den allgemeinen Erwartungen ist gleichsam unerträglich.
Um Bachmanns somit in sich para-doxale Haltung zu beschreiben, drängen sich logisch-antilogische Denkfiguren auf, die ihn als dynamischen Teil einer Spannung zwischen Innen und Außen, zwischen Identifikation und Abgrenzung fassen. Bachmann nimmt Teil am kulturellen Leben Italiens der 70er und bleibt gleichsam ein Outsider. Er nimmt die Rolle eines Journalisten ein und missbilligt sie. Er lädt Pasolini zum Interview und bestreitet indes, Interviews zu machen. Er stellt Pasolini Fragen, möchte gleichsam die Aussagen machen. Diese rigoros widersprüchliche Einstellung lässt sich mitnichten nur am Beispiel der Pasolini-Gespräche nachvollziehen. Bachmanns Aversion gegenüber prädefinierten Rollen ist eine offensichtliche soziale Konstante, die sich auch in anderen Beispielen offenbart – auch in den umgekehrten Situationen, in welchen er nicht als Fragender, sondern als Befragter auftritt. Als er 2015 als Bekannter Pasolinis und Zeuge von dessen Dreharbeiten zu Salò die Bühne des Hamburger Schauspielhaus betritt, hebt er unaufgefordert, und ohne Rücksicht auf die vereinbarte Moderation[59], zu einer Rede an, die aus einer ganzen Reihe von Affirmationen und Gegenaffirmationen besteht: “Ich bin/nicht der letzte Überlebende, der Pasolini gekannt hat“; “Ich war/nicht an der Arbeit an Salò beteiligt; “Ich hatte/keine privilegierte Beziehung zu Pasolini“ etc., etc.
Abb. 2. Felix Ensslin und Gideon Bachmann im Hamburger Schauspielhaus (v. l.)
Diese widersprüchliche Konstellation besitzt gerade im Hinblick auf das Tun, mit dem sich Bachmann in den 60er und 70er Jahren einen Namen gemacht hat, besondere Prägnanz. Was Bachmann macht, steht zu seinem beharrlichen Anspruch auf Originalität und Unabhängigkeit in einer von vornherein paradoxalen Proportion. So hat er im Journalismus, in all seinen Facetten, von der Berichterstattung, dem Porträt, dem Interview bis hin zum Essay, just den Wirkungsbereich ausgewählt, in dem die Behauptung persönlicher Originalität gegenüber anderen, insbesondere kreativ-künstlerischen Sektoren, a priori eingeschränkt ist. Das betrifft die Form ’Interview’ nun in besonderem Ausmaß:
[…] gran parte dell’esito e del successo di una intervista dipend[e], in definitiva, dalla personalità del personaggio intervistato. La bravura dell’intervistatore è (solo?) quella di far emergere questo personaggio nella maniera più fedele possibile all’originale.[60]
In der Tat gibt es für den Interviewer keine andere Möglichkeit, sich als solcher zur Geltung zu bringen, als dem Anderen dabei zu helfen, sich zur Geltung zu bringen – sei es auch, indem er ihn herausfordert. Er muss also zur Verfügung stehen, von sich selbst und seinen Bedürfnissen absehen und Anlaufstelle zu sein, damit der Andere sich entfalten kann. Nur eine im Stillen waltende Sensibilität, die intuitive Gabe, in seinem Gegenüber ein Gefühl des Vertrauens herzustellen und diesem damit ’zur Sprache zu verhelfen’, eine paradoxe Tugend, die als solche idealiter nicht erkenntlich ist, zeichnet den Interviewer aus.
Die somit im idealen Interviewszenario strukturell angelegte Situation der Abhängigkeit, scheint der individuellen Anerkennung, wie sie Bachmann wohl anstrebte, nicht dienlich. Dies lässt sich verallgemeinern: Macht Bachmann die Vermittlung außergewöhnlicher Persönlichkeiten zur Ausgangslage seiner Selbstverwirklichung, so kann diese immer nur bedingt gelingen, weil er jenen gegenüber in einer Position der Subalternität bleibt. Damit ist er immer wieder zum Scheitern verurteilt. Sowohl seitens der zu porträtierenden Figuren, als auch seitens der Empfänger, wird Bachmann zunächst als ein Mittelsmann wahrgenommen, also – metaphorisch erweitert – jemand, der Mittel zum Zweck, aber auch Mittelmaß ist.
Aber gerade diese Voraussetzung, diese ’Rolle’, gilt es für ihn im professionellen und menschlichen Sinn zu überwinden. Dies ist die Herausforderung, die sich in jedem Bericht, in jedem Interview, in jeder Dokumentation neu stellt und noch in Bachmanns Lehrbuch für den Film ist der Drang, sie zu überwinden, nachvollziehbar.[61] Die Wahl seines Tätigkeitsfelds steht somit nicht einfach im sinnfreien Widerspruch zu Bachmanns persönlichen Geltungsanspruch. Sie ist geradezu seine Voraussetzung. Die ihr innewohnende Spannung verleiht ihm seinen Stimulus, sie formt das, was Bachmann zum Lesen, Sehen und Hören hinterlassen hat.
8. Sehnsucht nach Symbiose
Auch der immer wieder erkannte Eigenwert der Bachmann-Pasolini-Texte kann unter diesem Aspekt gelesen werden: Zu seiner Rolle als Interviewer stellt sich Bachmann, wie wir gesehen haben, von Anfang an quer (“Non è la risposta esatta alla mia domanda!“), da er die entsprechende Rollenverteilung, und die ihm dabei zufallende subalterne Position nicht akzeptiert. Indem er die Gespräche zu Gunsten undurchsichtiger, persönlicher Fragepatterns gestaltet; oder indem er Aussagen macht, anstatt Fragen zu stellen, beansprucht er die Kontrolle über den Gesprächsverlauf und verteidigt gleichsam seinen Anspruch auf Gleichberechtigung. Er signalisiert, mit Pasolini auf Augenhöhe sprechen zu wollen. Dieser Aspekt, der zunächst die Interpretation einer professionellen Rolle betrifft, hat schließlich einen menschlichen Revers: Genauso wie er nicht als Journalist, so möchte er insgesamt nicht nur in einer beruflichen, sondern in einer vollwertig menschlichen Beziehung wahrgenommen werden. Die in den Pasolini-Gesprächen zeitweilig aufblitzende Vertraulichkeit[62] ist wohl auch das Resultat der Suche Bachmanns nach freundschaftlicher Nähe.
Abb. 3. Gideon Bachmann und Pier Paolo Pasolini (v. l.)
Ob diese dann immer so eingetreten ist, wie von Bachmann dargestellt, retrospektiv, in seinem Tagebuch zu Pasolini, oder direkt in seinen Interviews, das bleibt fraglich. Gerade die Tendenz, seine privilegierte Beziehung zum ausdrücklichen Thema der Interaktionen zu machen und sie damit in ein öffentliches Schaufenster zu stellen – wie im Interview anlässlich der Premiere von La città delle donne, in dem er den großen Fellini geschickt in einen Diskurs über seine personal matters verwickelt[63] – lässt einige Zweifel zu. Das ändert aber nichts am Umstand, wonach Bachmanns Dokumentationen in ihrer Form von dessen Bemühung geprägt sind, zu seinem Gegenüber aus einer Position der ’Minderwertigkeit’ in eine Position nicht mehr konventioneller ’Gleichwertigkeit’ zu treten: Sich selbst aus der tendenziell parasitären Beziehung heraus-, sein Gegenüber hingegen in eine Beziehung der Symbiose zu bewegen.
Somit ist es womöglich auch aus Angst davor, in dieser Erwartung enttäuscht zu werden, wenn Bachmann seine Interviews so gestaltet, dass schließlich auch die in Interviews für gewöhnlich geltende ’funktionale Hierarchie’ verändert, ja regelrecht umgedreht wird. Ist die journalistische Praxis an einen öffentlichen Nutzen gebunden, die den Journalisten mitunter auch zum Mittel – also zum Ausgenutzten – macht, so entzieht Bachmann dieser ’a-sozialen’ Interpretation seines Tuns die Grundlagen. Ja mehr noch, um sich zu schützen, dreht er den Spieß kurzerhand um: Nicht er dient dem Interviewten, sondern der Interviewte dient ihm. Seine Fragen stehen nicht im Dienst des Befragten und seiner Möglichkeit, sich gegenüber sich selbst und der Öffentlichkeit zu erklären; sondern sie sind umgekehrt dazu bestimmt, das Gegenüber in ein Gespräch zu verwickeln, das Bachmann hilft, sich selbst und seine eigenen Gedanken zu (er)klären. In diesem Sinne kann er Fellini im zitierten Interview unumwunden verkünden: Ich werde in Folge kein Interview im eigentlichen Sinne führen, sondern: “I am just blatantly using you to clarify some ideas“![64]
Unter dem Eindruck der hier erstellten ’Liste der Abnormitäten’ in Bachmanns journalistischer Praxis mag man die Interviews, wie er sie mit Pasolini geführt hat, als falsche oder missratene Interviews bezeichnen; als Sammlung von Kuriositäten eines bizarren, ewig sich-selbst suchenden und frustrierten, weil unverwirklicht gebliebenen Künstlers; oder, nicht zuletzt, als verpasste Gelegenheiten, was die Möglichkeit, Pasolini und seine Ideen genauer kennen zu lernen, betrifft. Nichts dergleichen stimmt. ’Abnormitäten’ sind Bachmanns Pasolini-Interviews natürlich nur gemessen an einem Standardformat, und im Kontrast zu den ungleich ’professionellen’ Beispielen Duflots und Hallydays. Ihre Irregularität macht im Übrigen ihren Reiz aus. Sie birgt einen kognitiven Vorteil.
Fehlt ihnen die transparente Ordnung, so kompensieren sie diesen ’Mangel’, indem sie eine Fülle unerwarteter Überraschungen bieten. Fehlt ihnen eine teleologische Funktion, so lassen sie hingegen Raum, für das Erlebnis eines Gesprächs, das sich im Moment entfaltet, frei von der Pflicht, ’zielführend’ zu sein. Fehlt ihnen der von Gian Carlo Ferretti geltend gemachte Initiationswert und taugen Bachmanns Gespräche mit Pasolini somit nicht der Vermittlung eines gesamtheitlichen künstlerischen Profils, so halten sie gelegentlich das Bild eines weniger ’offiziellen’ Pasolinis fest.
Natürlich erfindet Bachmann Pasolini in seinen Interviews nicht neu: Auch sie bestätigen den Verlauf der geistig-rhetorischen Entwicklung Pasolinis, vom unruhigen, reflexions- und problematisierungsfreudigen Künstler, der seine “Hoffnung“ auf eine marxistische Zeitenwende auch zur Zeit nach dem Chruschtschow-Bericht nicht aufgegeben hatte (siehe Gespräch vom 25. Januar 1965), hin zu einem ernüchterten und in der Ernüchterung einheitlich argumentierenden Intellektuellen, der “überhaupt keine Hoffnung“ hat (Gespräch vom 28. April 1975).[65] Auch in ihnen wird Pasolinis filmkünstlerischer Werdegang, von der, im weiteren Sinne, ’realistischen’ Phase (Accattone) bis zur ’allegorischen’ Phase (Salò) reflektiert. Die je offene Ausgangslage der Bachmann-Gespräche führt mitunter aber in Richtungen, die dem Moment verpflichtet, und daher unüblich, nicht protokollarisch sind. Der ungewohnten Form der Interviews entspricht ein von ihnen vermitteltes Profil, das ebenso ungewohnt ist. Bachmanns offen ’essayistische’ Gestaltung der Begegnungen, als Instrument zur Bewältigung seines kulturellen Unbehagens, verwickelt auch sein Gegenüber in eine Suche, lassen auch ihn zu einem Suchenden werden – genau wie im Titel der geplanten Bachmann-Dokumentation über Pasolini suggeriert: Cerco.
Aus den Salò-Gesprächen, auch bekannt als "Interview unter dem Baum" (28. April 1975; Archiv Cinemazero, Pordenone)
Literaturverzeichnis
Bachmann, Gideon (1982), Bewegte Bilder. Über Macht und Handwerk des Films, Weinheim: Beltz.
Bachmann, Gideon/Fellini, Federico (1981/1982), “Federico Fellini: The Cinema seen as a women…. An interview on the day The city of women premiered in Rome”, in Film Quarterly Vol. 34, No. 2, pp. 2-9.
Bazzochi, Marco Antonio (2018), Esposizioni. Pasolini, Foucault e l’esercizio della verità, Roma: Il Mulino.
Benedetti, Carla (1998), Pasolini contro Calvino: per una letteratura impura, Torino: Bollati Borringhieri.
Bourdieu, Pierre (1998), Les règles de l’art. Genèse et structure du champ littéraire, Paris : Seuil.
Chiesi, Roberto (2009), “Il corpo del degrado. Appunti sull’Italia del presente nell’opera di Pasolini (1973-1975)”, in Guidi, Alessandro/Sassetti, Pierluigi (2009), L’eredità di Pier Paolo Pasolini, Milano: Mimesis, pp. 54-56.
Duflot, Jean/Pasolini, Pier Paolo (1970), Entretiens avec Pier Paolo Pasolini (1969), Paris : Belfond (erweiterte Ausgabe : Pier Paolo Pasolini, les dernières paroles d’un impie (1969-1975), Paris : Belfond 1981) ; Italienische Ausgabe : Pasolini, Pier Paolo (1983), Il sogno del Centauro, hrsg. v. J. Duflot, Einleitung von G. C. Ferretti, Roma: Editori Riuniti.
Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W. (2012), Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a. M.: Fischer.
Levi, Primo (2016), Io che vi parlo. Conversazione con Giovanni Tesio, Torino: Einaudi.
Pasolini, Pier Paolo (2015), Polemica, politica, potere. Conversazioni con Gideon Bachmann, hrsg. v. R. Costantini, Milano : Chiarelettere.
- (2014), Pasolini su Pasolini. Conversazioni con John Hallyday, Parma: Guanda.
- (2001), Per il cinema, II, hrsg. v. W. Siti u. S. de Laude, Milano: Mondadori.
- (1999), Saggi sulla politica e sulla società, a cura di W. Siti e S. de Laude, Milano: Mondadori.
Pasolini, Pier Paolo (1999), “La sceneggiatura come struttura che vuol essere altra struttura”, in Ibid., Saggi sulla letteratura e sull’arte, I, hrsg. v. W. Siti, S. De Laude, Milano: Mondadori, pp. 1489-1502.
Siti, Walter (1998), Tracce scritte di un’opera vivente, in Pasolini, Pier Paolo, Romanzi e Racconti, I, hrsg. v. W. Siti, S. De Laude, Milano: Mondadori, pp. XI-XCII.
- (2002), L’opera rimasta sola, in P. P. Pasolini, Tutte le poesie, II, hrsg. v. Walter Siti und S. De Laude, Milano: Mondadori, pp. 1899-1946.
Starobinski, Jean (2013), La parola è per metà di colui che parla… Conversazioni con Gérard Macé, Milano: Archinto.
Ujcich, Veronika (2008), L’intervista tra giornalismo e letteratura, Roma: Aracne.
Vitali, Fabien (2015), ”Macchine infernali (da far inceppare). Per una lettura de L’Histoire du Soldat”, in Studi Pasoliniani. Rivista Internazionale 9, pp. 55-71.
Vitali, Fabien (2010), “Intorno ai materiali di Casarsa. Dediche nelle prime opere di Pier Paolo Pasolini (1941-1955)“, Margini. Giornale della dedica e altro 4, (http://www.margini.unibas.ch/web/rivista/numero_4/saggi/articolo2/pasolini.html).
Permalink: https://www.lettereaperte.net/artikel/numero-52018/396