Krise und Erneuerung. Die faktuale Offensive des Fiktionalen
Ausblicke
Wenn Elena Esposito im Kontext ihrer Überlegungen zur Wahrscheinlichkeitstheorie behauptet, die Fiktion wirke wie ein “Spiegel, in dem die Gesellschaft ihre eigene Kontingenz reflektiert” (Esposito 2007, 18), so vergisst sie durchaus nicht, diese Aussage für den Bereiche der Literatur zu präzisieren: “Indem der Roman eine realistische Fiktion anbietet, erlaubt er es den Beobachtern, Erwartungen und Analysen zu entwickeln, die die undurchsichtige reale Realität nicht zulassen würde” (Esposito 2007, 61). Mit Blick auf die soeben vorgestellten, selbstredend realitätsaffinen Verbrechenserzählungen lässt sich vielmehr das durchgängige Bemühen festmachen, Zeitgeschichte durch emplotment nicht nur zu reflektieren und zu analysieren, sondern performativ zu verändern. Die durch mediale Verschleierungstaktiken, zirkulierte Verschwörungstheorien und institutionelle Irreführungen hinsichtlich ihres Wahrheitsgehaltes kaum mehr vollständig zu fixierenden Ereignisse der Realgeschichte, welche der fiktionalen Sinngebung Ausgang geben, finden sich bereits mit einer nachhaltig fiktionalisierten Körperlichkeit versehen, welche die öffentliche Rezeption dieser Ereignisse und deren institutionelle Bewältigung von Anfang an zu leiten bemüht ist. Der literarisch ausagierte fiktionale Lückenschluss ist folglich bemüht, durch narrative Rationalisierung die Überführung verundeutlichter, verwischter und ordnungsloser Fragmente in ein eingängiges Ordnungsmuster zu leisten, nachdem öffentliche, zumindest anteilig fiktional kodierte Deutungen über Jahrzehnte unbefriedigende faktuale Leerstellen hinterlassen hatten. Faktual basierte literarische Fiktion, die sich nicht mehr mit einem kategorisch distinkten Als-Ob-Status begnügt, nicht mehr als literarische “Erfindung einer zweiten, alternativen Welt mit freier Beziehung auf die gegebene Wirklichkeit – einer Kunstwelt, die von der gewöhnlichen Realität entlastet” (Koschorke 2012, 229), funktionieren will, wird so zur politischen Handlung. Diese performativen Aspekte faktualer Fiktionen sind demzufolge bestrebt, destabilisierende politische Fiktionen respektive Unterlassungen durch rationalisierende literarische Gegen-Fiktionen zu schwächen. Die faktuale Fiktion mit ihrem intensiven Einbezug von Indizien, Ermittlungen und journalistischen Recherchen generiert in diesem Sinne einen Gegenentwurf zum fiktionalisierenden Unterlassungshandeln einiger Organe des Staates, um reale Ereignisse ‘realistisch’ zu rekontextualisieren.
Realraum und fiktive Welt sind folglich nicht mehr zu trennen, Faktualität und Fiktionalisierung amalgamieren in unauflöslicher Form – und dies wohlgemerkt bereits bezüglich der realräumlichen Bewältigung der ursprünglichen Ereignishaftigkeit in strategisch kodierten Wirklichkeitserzählungen. In diesem Sinne wird einem offenkundig unaufschiebbaren politischen Interpretationsbedürfnis einer Erzählgemeinschaft literarische Gestalt gegeben.[7] Dieses Deutungsbedürfnis ist mithin Effekt einer politischen Landschaft, deren über Jahrzehnte gewachsene Topographie mehr denn je nach cognitive mapping verlangt. Dabei entstehen Erzähltexte, die nach klassischen narratologischen Kriterien schwer zu fassen sind. Gezeigt haben dies nicht zuletzt die literaturtheoretischen Diskussionen rund um den Camorra-Bestseller des Journalisten Roberto Saviano aus dem Jahre 2006. Savianos innovative Überblendung von autofiktionalen, fiktionalen und faktualen Verfahren, kurz: die Hybridität dieses Textes hat begriffliche Neuprägungen provoziert, die vom romanzo non-fiction, so Saviano selbst, bis zum Label Dokufiction reichen, welches nicht von Ungefähr auf filmische Formate referiert.
Die Überlegungen des Bologneser Autoren-Kollektivs Wu Ming, das seit fast zwanzig Jahren auf theoretischer wie praktischer Ebene um eine Erneuerung der italienischen Narrativik bemüht ist,[8] haben deshalb zielsicher auf das Exempel Gomorra zugegriffen. Savianos Text figuriert in den New Italian Epic-Manifesten von 2009 als zentrales Beispiel für “oggetti narrativi non-identificati” (Wu Ming 2009, XI, 11 ff.), eine vorerst provisorische Terminologie “utile a definire narrazioni che non sono più romanzi ma non sono ancora compiutamente altro, e che forse ‘compiutamente altro’ non diverranno mai” (Wu Ming 2009, XI). Wu Ming zielt dabei explizit ab auf Erzählungen, die Italiens Literatur in die Zukunft führen sollen, indem sie voluntative Transformation historischer Fakten betreiben: “oggi si scrivono romanzi di trasformazione storica, dove le fonti di storia e di cronaca sono i materiali di partenza della macchina narrativa” (Wu Ming 2009, 171), so die Autoren, “libri che fanno i conti con la turbolenta storia d’Italia” (Wu Ming 2009, 14/15). Faktuale Fiktion als “fusione di etica e stile” (Wu Ming 2009, 26) wird von Wu Ming kurzerhand zum Innovationsgenerator erklärt, zum Motor einer nicht nur literarischen Selbsterneuerung, wobei der auch in diesem Kontext prominente Bezug auf die (Zeit-) Geschichte ganz offenkundig Effekt der Summe faktualer Sachverhalte, inhärenter Zugzwang des Werteverlustes der Erzählgemeinschaft ist: “Accade in Italia, non a caso. Paese delle mille emergenze, poco interessato al futuro, già oltre l’orlo di catastrofi indiscusse (nel senso che non se ne discute). Paese campione di polvere sotto il tappeto e liquami alle caviglie” (Wu Ming 2009, 60).
In just diesen Belangen darf sich also auch eine auf aktuelle Fragestellungen abzielende Italianistik gefordert sehen: Wu Ming fordert für die avisierte New Italian Epic programmatisch “impegno etico nei confronti dello scrivere e del narrare, il che significa: profonda fiducia nel potere curativo della lingua e delle storie, […] un senso di necessità politica, […] un’esplicita preoccupazione per la perdita del futuro”, schließlich “sintesi di fiction e non-fiction diverse da quelle a cui eravamo abituati […], un modo di procedere che oserei definire ‘distintamente italiano’, e che genera ‘oggetti narrativi non-identificati’” (Wu Ming 2009, 108/109) – narrative Modi der Aushandlung kultureller Anliegen, die über das Tagesgeschehen hinauszielen. Im Blick steht damit ganz wesentlich das Zusammenwirken von Medialität und Realraum im Narrativen: fiktionale Anreicherungen sind nicht mehr als ‘Entlastung’, sondern als kognitive Deutungsmodelle, sind insbesondere oft hybrid kontaminiert unterwegs und suchen, haben performative Macht – zumal in Italien.
Aber auch die literaturwissenschaftliche Theoriebildung verändert sich immer zügiger in nämliche Richtung. Albrecht Koschorkes Allgemeine Erzähltheorie lässt diese selbstverständlich nicht nur in Italien vorfindlichen Tendenzen zum Leitmotiv seiner theoretischen Überlegungen gerinnen, wenn er schlussfolgert: “Deshalb ist die Erzähltheorie, so wie sie hier verstanden sein soll, eine politische Wissenschaft” (Koschorke 2012, 245). Wenn Koschorke darauf verweist, dass Erzählungen “im Medium sozial geteilten Wissens” (Koschorke 2012, 37) gedeihen und in ihren polyformen Figurationen sozialen Sinn erst aushandeln (Koschorke 2012, 40), dann trifft er sich hier mit Müller-Funks Erzählgemeinschaften und Nünnings Forderung nach der Formierung einer kulturwissenschaftlichen Narratologie, die in der Lage ist, transdisziplinär Potentiale und Dynamiken kultureller Erzählgemeinschaften zu ergründen. In Frage steht allenthalben der Status des Fiktionalen, der sich, so scheint es, im Flusse befindet – und damit ein Begriff von Faktizität, dessen Wahrheits- oder Authentizitätsansprüche verstärkt auf dem Prüfstand stehen. In Frage steht damit aber auch eine Neujustierung italianistischer Gegenstandsbereiche, die sich diesen gerade für den Kulturraum Italien so prekären Fragen zu stellen haben – Fragen, die gerade aufgrund der Spezifik der Exempel zur Präzisierung aktueller theoretischer Überlegungen beitragen können.
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