Krise und Erneuerung. Die faktuale Offensive des Fiktionalen

Zeitgeschichte, fiktionaler Status und Faktualität

Ein kurzer Blick auf einen Text der Modeneser Soziologin und Luhmann-Schülerin Elena Esposito von 2007, Die Fiktion der wahrscheinlichen Realität – ein Essay, der das fiktionale Walten der Wahrscheinlichkeitstheorie zum Thema hat – verdeutlicht aus einer weiteren Perspektive die Konturen des Gegenstandsfeldes. Esposito nennt den Apparat der Wahrscheinlichkeitstheorie, die beinahe simultan zur modernen literarischen Fiktion in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts erfunden wird, eine Sicherheit simulierende “Methode der Herstellung einer defuturisierten Zukunft” (Esposito 2007, 60), welche die Offenheit dieser Zukunft für den sozialen Konsens der Gegenwart durch eine fiktive Zahlenrealität einschränkt. Diese wird im Essay immer wieder mit der literarischen Fiktion verglichen:

Es scheint ganz so, als definiere sich Realität in der modernen Gesellschaft nicht nur über die Negation des Irrealen, sondern über die Spiegelung und den Austausch verschiedener Realitäten, die nicht eindeutig, aber auch nicht zufällig sind. Durch die Offenlegung ihres fiktiven Charakters ‘funktioniert’ die fiction genau dann, wenn sie ihre ‘Andersartigkeit’ zwar in Bezug zur realen Realität, aber auf der Grundlage präziser Bedingungen entwirft: Der Roman muss realistisch sein, d.h. er muss eine Welt entwerfen, die der direkt erfahrenen Welt an Kohärenz entspricht oder diese gar übertrifft (Esposito 2007, 19).

Derartige fiktionale Realitätsverdoppelungen, die sowohl Autoreflexivität als auch Kontingenzbewältigung ermöglichen, – gerade weil die generierten fiktionalen Welten Fiktionen, und weil sie gleichzeitig in einem Maße kohärent sind, wie es in der komplexen realen Welt kaum je vorzufinden ist –, leiten nun geradenwegs zu den Problemstellungen der literaturwissenschaftlich geprägten Fiktionstheorie über.

Konsultiert man jüngere Literaturlexika, etwa Ansgar Nünnings Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, so trifft man dort auf folgende Kurzdefinitionen von Fiktionalität: “Bezeichnung für den erfundenen bzw. imaginären Charakter der in literarischen Texten dargestellten Welten” (Nünning 2001, 181). Fiktionalität meint also sprachgenerierte fiktive Welten, die offenkundig keine Überschneidung mit der realen Welt aufweisen. Nünning ruft an dieser Stelle fiktionale Konstruktionen in Mathematik und Jurisprudenz auf, indiziert also, wovon Esposito spricht, und steuert schließlich auf den sehr alltäglichen Archetypus des Fiktionalen zu: “genuiner Ort für Fiktion ist das Spiel” (Nünning 2001, 181). Auch Koschorke wird diesen handlungstheoretischen Aspekt des Fiktionalen[4] in seiner Allgemeine Erzähltheorie beibehalten: “Tatsächlich” heißt es da, “sind Erzählungen in einem gewissen Sinne Erzählspiele – regelgeleitet, mit unter Umständen großen Einsätzen, aber innerhalb des gegebenen Regelsystems in den meisten Spielzügen frei” (Koschorke 2012, 12).

Damit findet sich nun jenes Als ob-Kriterium aufgerufen (vgl. Traninger 2008), das nicht nur fiktionales Erzählen und Strategien jeder intersubjektiven Kommunikation, sondern ebenso kognitive Hilfsoperationen des Denkens beschreibt: Annahmen also, die – zwischen Spiel und Ernst, zwischen dem Uneigentlichen und dem Eigentlichen oszillierend (vgl. Koschorke 2012, 16) – zu Problemlösungen beitragen sollen. Rhetorisches Fingieren und das Erkennen der Konstruktivität dieser Fiktionen gehört mithin zu den elementaren Kulturtechniken, mit Koschorke: “Aber das ändert nichts daran, dass im praktischen Leben niemand zurechtkommt, ohne zwischen dem, was ist, und dem, was nicht ist, klare Unterscheidungen treffen zu können” (Koschorke 2012, 16). Was Menschen ohne eine solche Urteilsfähigkeit passieren kann, zumal Leserinnen und Lesern fiktionaler Literatur, ist wiederum spätestens seit Cervantes’ Don Quijote (1605/15) immer wieder Gegenstand literarischen emplotments.

Andererseits[5] sind literarische Verfahren der Textgenerierung im Abendland seit dem 16. Jahrhundert aristotelischen Maximen verpflichtet: also Mimesis- und Wahrscheinlichkeits-Postulaten, welche gerade für Texte Gültigkeit besitzen, die fiktional ausgebildet sind – mit Ausnahme derjenigen Textsorten, die, wie Fabeln, Märchen oder phantastische Literatur, die aristotelischen Maßgaben per se suspendieren. Fiktionale Welten folgen somit in der Regel einer Realitätswahrähnlichkeit. Die Fiktionstheorie des mittleren 20. Jahrhunderts argumentiert diesbezüglich metaphysisch und setzt der realistischen Fiktion eine “Wirklichkeit” von Welt entgegen, die unhinterfragt mit dem Terminus “Wahrheit” kurzgeschlossen wird – womit ein realer Sachverhalt also zugleich einen Wahrheitsstatus eingeschrieben erhält. Die literarische Fiktionstheorie argumentiert hier antithetisch-klassifikatorisch und trennt das Fiktionale kategorisch vom Realen. Sie spricht deshalb von einer autonomen fiktiven Welt, konsequenterweise mit leerer Referentialität, deren Bestandteile auf sich selbst und nicht etwa auf reale Realität referieren. Wäre die erzählte Welt realitätsreferentiell, müsste man sie entsprechend als nichtautonom-faktual klassifizieren. Gérard Genette wird dieses antithetische Theorem schließlich im späten Fiction et diction von 1991 etwas entschärfen, als er fiktionales Erzählen nicht mehr als unwahre, sondern uneigentliche Rede charakterisiert, die Nichtseiendes beschreibe: also fiktive Entitäten in einer fiktiven Welt, die – so die literarische Fiktionstheorie seither – realen, eigentlichen Entitäten in der realen Realität zumindest nach Raum-, Zeit- und Handlungskomponenten sehr ähnlich sind: und dies mit gutem Grund.

Fiktionale Texte arbeiten entsprechend mit Verfahren wie den Barthes’schen effets de réel, mit der Implementierung von realen Toponymen, Personennamen oder Ereignissen, die als authentifizierende Realitätsgarantien in paradoxaler Wendung jedoch gerade die Fiktionalität der Texte inszenieren. Die Rezeption fiktionaler Texte verlangt demzufolge nach einem in der realen Realität generierten Weltwissen, mit Hilfe dessen die fiktionale Welt erkannt und als Als-Ob-Struktur mit der realen Realität abgeglichen werden muss. Zudem obliegt dem Weltwissen der Rezipienten die Befüllung von Leerstellen der notwendigerweise unvollständig erzählten fiktionalen Welt, die durch das Herstellen von Korrespondenzen illusionistisch zu schließen sind – Hempfer bezeichnet diesen Sachverhalt als Präsuppositionalstruktur fiktionaler Texte (Hempfer 1990, 131/132). Was die klassische Fiktionstheorie anbelangt, sind somit sowohl der Status der realen Welt, als auch der Status der fiktiven Welt als mehrfach prekär (in Bezug auf sich selbst wie aufeinander) zu verbuchen. Diskrete theoretische Entitäten, die antithetisch kodiert sind, fixieren in der Theorie eine feste Grenze zwischen fiktiver Welt und realer Realität.

In Hinblick auf die Textebene stehen die Dinge anders: Reale Welt dringt dort in beliebig hohem Maße ins Fiktionale ein, welches seinerseits nach dem Realitätsprinzip (Bunia 2007, 135) organisiert ist. Die Rezeptionsebene wiederum kann sich in der Regel darauf verlassen, dass fiktive Welten realistische Beobachtungen bereitstellen, die sich in der Rezeption auf die reale Welt rückübertragen lassen, also einem Korrealitätsprinzip (Bunia 2007, 155) folgen. Selbstverständlich generieren Erzählungen auch narrative Rückkoppelungen im Realraum, leiten soziale Akteure in ihren sozialen Verhaltensweisen an, die in der realen Realität performativ in Wiederholungshandlungen Erzählmuster ausagieren: Beispiele finden sich zuhauf, verwiesen sei deshalb jenseits aller Werther- oder Bovary-Effekte lediglich auf vielzitierte jüngere Exempel, die etwa das Filmrollen zitierende politische Agieren des Filmschauspielers Ronald Reagan als US-Präsident betreffen, oder aber das Auftreten sizilianischer wie US-amerikanischer Mafiosi/neapolitanischer Camorristi, das sich gelegentlich auffällig an einschlägigen Filmerzählungen orientiert (und darob seinerseits zum Gegenstand von weiteren Narrationen gerät). Koschorke erklärt das Erzählen unter anderem deshalb zum “Organon einer unablässigen kulturellen Selbsttransformation” (Koschorke 2012, 25).

Gegenwärtige literaturtheoretische Überlegungen, zumal aus kulturwissenschaftlicher Perspektive inspiriert, nehmen angesichts der Aufweitung des westlichen Realitäts-Konzeptes durch das Vordringen digital generierter virtueller Realitäten in unseren Alltag nun zunehmend Abstand von narratologischen Annahmen kategorialer Geschlossenheit. In der Erzähltheorie wird vermehrt der liminale Bereich des Hybriden anvisiert, welcher nunmehr nicht mehr die Grenze, sondern den Zwischenraum zwischen Fiktionalität und Faktualität meint, der sich klassischen Gattungsregeln in der Regel entzieht. Obwohl dies schon immer einige seit je periphere literarische Genera betrifft – historische Romane, Autobiographien, Tagebücher, Reiseberichte, kontrafaktische Erzählungen oder religiöse Texte – sowie im selben Maße nur partiell oder nicht-literarische Textsorten wie Briefe, Blogs, Graphic Novels, historiographische Texte, ist just im Spielraum zwischen Fiktionalität und Faktualität ein noch kaum erfasstes Maß an experimenteller Kontamination zu erschließen. Dies meint ebenso Fiktionalisierungen des Faktischen, die in hohem Maße das Alltagsleben der sozialen Akteure und insbesondere die politischen Diskurse der Erzählgemeinschaften durchziehen. Der Blick transdisziplinär aufgestellter narratologischer Ansätze gilt, wie oben umrissen, deshalb vermehrt nicht-literarischer Fiktionalität in nicht-literarischen Medien, Diskursen, Disziplinen und kulturellen Praktiken, insbesondere aber der Vermischung von Faktischem und Fiktivem, von Fiktionalität und Faktizität, wie sie heute nicht nur Erzählungen, sondern umfassend soziale Praxis charakterisiert.

Dieses jüngst konkretisierte Interesse der Literaturwissenschaft an Faktualität indiziert einen erstaunlich lange Inkubationszeit, nachdem der Philosoph Arthur C. Danto sowie die Historiker Hayden White, Reinhart Koselleck und andere bis in die späten achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts bereits ausgiebig den Textualitätsstatus der historischen Wissenschaften und damit das Problem des faktualen Erzählens, des historiographischen Zusammenwirkens von Faktualität und Fiktionalität diskutiert hatten – auf das ja explizit noch Paolo Di Paolo in seiner Nota verweist. Die dabei beschriebenen Verfahren des emplotments (Hayden White) als dem Textualitätsstatus der Geschichtswissenschaften notwendig obliegendes narratives Organisieren einer kulturellen Vergangenheit sind längst lanciert, die vermeintliche Faktualität der Historikertexte zugunsten einer mit der Aufklärung Einzug haltende “Fiktion des Faktischen”, so Koselleck, ad acta gelegt: “Sobald der Historiker genötigt wurde, seine Geschichte kunstvoll, moralisch und rational begründet aufzubauen, wurde er auch auf Mittel der Fiktion verwiesen. […] Nicht nur darstellungstechnisch, auch erkenntnistheoretisch wird vom Historiker gefordert, nicht eine vergangene Wirklichkeit, sondern die Fiktion ihrer Faktizität zu bieten.” (Kosellek 1989, 280)

Die historiographische Erstellung einer derartig perspektivisch zugerichteten Fiktion des Faktischen bedarf also narrativer Augmentation, um die Erzählung der Vergangenheit mit den Erfordernissen der jeweiligen Gegenwart zu synchronisieren. Die historiographische Fiktion des historischen Faktischen muss demzufolge kohärente Geschichten generieren, die als sinnhafte Ordnungsstruktur der Kontingenz längst vergangener Ereignisse entkommen hilft – was dem Historiker Koselleck insbesondere hinsichtlich des Wahrheits-Status bedenkenswert erscheint, allerdings ohne sich dabei grundsätzlich von der strikten Faktualitäts-Fiktionalitäts-Dichotomie zu lösen:

Ich frage vielmehr nach dem Status einer historischen Aussage über jene geschichtliche Wirklichkeit, die sich der sprachlichen Festlegung immer wieder entzieht. Sei es, dass Geschichte immer wieder umgeschrieben werden muß, weil sie sich selbst ändert, neue Fragen provoziert, und weil neue Erwartungen zurückwirken, sei es, dass die vergangene Geschichte als Wirklichkeit festzuschreiben sowieso ein Risiko bleibt. Wirklich in einem zugänglichen und auch überprüfbaren Sinne sind nur die Zeugnisse, die uns als Relikte von früher überkommen sind. Die daraus abgeleitete Wirklichkeit der Geschichte ist dagegen ein Produkt sprachlicher Möglichkeiten, theoretischer Vorgaben und methodischer Durchgänge, die schließlich zu einer Erzählung oder Darstellung zusammenfinden. Das Ergebnis ist nicht die Wiedergabe einer vergangenen Wirklichkeit, sondern, überspitzt formuliert, die Fiktion des Faktischen. (Koselleck 2007, 50)

In Rede steht hier also eine Art Quasifiktionalität (Bunia 2007, 207), die aus dem Textualitätsstatus der Historiographie resultiert und in Kosellecks Sinn lediglich die Modi der Repräsentation von Geschichte betrifft,[6] seit geraumer Zeit kulturwissenschaftlich kanonisiert ist und trotzdem in literaturwissenschaftlichen Kontexten nur selten den Fußnotenstatus überwinden konnte. Die im digitalen Zeitalter nötig gewordene mediale, kulturwissenschaftliche wie transdisziplinäre Öffnung der literaturwissenschaftlichen Narratologie hat jedoch inzwischen Raum gegriffen. Seit 2012 steht faktuales Erzählen im Mittelpunkt des Freiburger Graduiertenkollegs “Faktuales und fiktionales Erzählen. Differenzen, Interferenzen und Kongruenzen in narratologischer Perspektive”, das sich zum Ziel setzt, mit Blick auf faktual und damit als authentisch veranschlagte Erzählformen wie journalistische Reportagen, historiographische Texte, mündliches Erzählen, Polizeiberichte, Sitzungsprotokolle, Kochrezepte usf. den Begriff des Faktualen transdisziplinär zu klären und damit explizit eine Forschungslücke zu schließen. Dieses Desiderat erhellt sich just an der bislang gesetzten Authentizität des Faktualen, die sich der Genette’schen Setzung verdankt, dass in faktualen Texten Autor- und Erzählinstanz zusammenfallen und dergestalt Authentisches, Bezeugtes hervorbringen, in fiktionalen Texten hingegen Produktions- sowie Vermittlungsinstanz zwei unterschiedlichen Welten zugehören: der realen Wahrheitswelt sowie der uneigentlichen Welt der Fiktion.

Wechselseitige Kontamination der reinen Fiktionalität oder Faktualität ist in den bisherigen Beschreibungskategorien also noch immer nicht vorgesehen: weder die fiktionalen Erzählungen der Künste noch die “fiktiven Operationsgrößen” (Koschorke 2012, 230) in Jurisprudenz, Naturwissenschaften, Wirtschaft, Politik usf. finden sich diesbezüglich methodisch systematisiert. Die nachfolgenden, durchweg literarischen Textbeispiele werden jedoch, ebenso wie der eingangs vorgestellte romanzo Paolo Di Paolos, zeigen können, dass in der erzählten fiktiven Welt, innerhalb derer gleichwohl alles Fiktive real ist, diese Realien auch der realen Realität entnommen sein können. Dass im fiktionalen literarischen Text selbstverständlich faktuales Erzählen simuliert, ja sogar praktiziert, die Fiktionalität also verschleiert oder moduliert werden kann. Dass Referentialität auf die reale Realität auch als Epizentrum einer erzählten Welt fungieren kann, die derart nicht vordringlich mit ihrer Konsistenz, sondern mit lückenhaften Versionen der realen Realität kämpfen muss. Dass diese fiktionalen Texte mithin einem Korrealitätsprinzip folgen, welches qua faktualem emplotment narrativen Lückenschluss des Realen betreibt – kognitive Lücken einer realen, einer politischen, einer sozialen Realität zu schließen versucht, deren fiktionaler Gehalt, und hier soll nun wieder das ideale Beispiel der italienischen Erzählgemeinschaft zum Zuge kommen, in den öffentlichen Diskursen seit Gründung der Republik zusehends höher und seit Berlusconis telekratischer Öffentlichkeits-Präsenz mithin als hoch zu veranschlagen ist. Die vorgestellten Texte nehmen allesamt von realen Ereignissen Ausgang, die im Zeitraum zwischen 1980 bis zu den Anfängen des politischen Wirkens Silvio Berlusconis zu verorten sind. Die fiktionalen Aufbereitungen dieser Ereignisse erfolgt in allen genannten Fällen in Gestalt von Verbrechenserzählungen. Diese Verbrechenserzählungen entwerfen für die hierüber relationierten sozialen Erfahrungen Deutungsschemata und betreiben, allesamt um die gesellschaftliche Zukunft Italiens bekümmert, kritisches cognitive mapping, das lückenreich archivierte Ereignisse des politischen Gedächtnisses in den kulturellen Bestand an Erzählungen einholt.

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