Krise und Erneuerung. Die faktuale Offensive des Fiktionalen

Erzählgemeinschaften. Neue Tendenzen der Theoriebildung

In einem kürzlich publizierten Aufsatzband, der sich den Perspektiven transdisziplinärer Erzählforschung für die Kulturwissenschaften widmet,[1] übernimmt der Anglist Ansgar Nünning mit seinem Initialbeitrag (2013, 15-53) nicht nur die programmatische Rahmung der nachfolgenden Beiträge, die zwar mit einem philologisch-kulturwissenschaftlichen Schwerpunkt versammelt sind, allerdings auch, dem Titel gemäß, transdisziplinär Fremd-Perspektiven integrieren (Naturwissenschaften, Psychoanalyse, Kriminalgeschichte) und transmediale Gegenstände sichten (KZ-Zeichnungen, Museum, Computerspiel, soziale Medien). Nünning bündelt hier theoretische Stichpunkte zu einer kulturwissenschaftlichen Neuformierung der Narratologie, wie sie in einer ganzen Reihe ähnlicher Initiativen der vergangenen Jahre festzumachen sind.

Ein wesentlicher Fluchtpunkt dieser Überlegungen gründet im Begriff der “Erzählgemeinschaften” (Nünning 2013, 19), den Nünning von Wolfgang Müller-Funk übernimmt: die Erzählgemeinschaft als narratologisch ausgesteuerte Definition einer lebendigen Kultur, die insbesondere auf die “wirklichkeitsstrukturierende Funktion des Erzählens” (Nünning 2013, 17) im Sinne kollektiv praktizierter Weltdeutungsschemata, kultureller Praktiken der Weltgenerierung respektive, in nämlichem Sinne, in der narrativ ausagierten “Kontingenzbewältigung” (Koschorke 2012, 11) einer kulturellen Gemeinschaft gründet, von welcher der Germanist Albrecht Koschorke in seinen jüngsten Überlegungen zu einer kulturwissenschaftlich begründeten Allgemeinen Erzähltheorie spricht. Bei Koschorke sind im übrigen dergestalt narrativ generierte “Orientierungsleistungen” ebenso indiziert wie “das Phänomen narrativ bewirkter Desorientierung” (Koschorke 2012, 12), die als Komplement der narrativen Generierungsmacht gleichermaßen mit bedachten werden will.

Nünning stellt seiner programmatischen Skizze zur kulturwissenschaftlichen Systematisierung solcher Erzählgemeinschaften[2] folgenden Absatz aus Müller-Funk vorweg:

Das Naheliegende ist stets in Gefahr, übersehen zu werden. Naheliegend wäre es, die konstitutive Bedeutung von Narrativen für Kulturen ins Auge zu fassen und Kulturen womöglich als mehr oder weniger (hierarchisch) geordnete Bündel von expliziten und auch impliziten, von ausgesprochenen, aber auch verschwiegenen Erzählungen zu begreifen. Denn zweifellos sind Narrationen zentral für die Darstellung von Identität, für das individuelle Erinnern, für die kollektive Befindlichkeit von Gruppen, Regionen, Nationen, für ethnische und geschlechtliche Identität. (Nünning 2013, 15, aus: Müller-Funk 2008, 17)

In Frage steht hiermit die konstruktive Reichweite des Erzählens im Sinne einer kohäsiven Macht, die auf der einen Seite individuelle Selbst- und Weltbildungsprozesse, auf der anderen Seite kollektive Vergemeinschaftungsdynamiken meint, die über Kanonisierungsprozesse und Gruppenbildungsdynamiken insbesondere imagined communities (Benedict Anderson 1983) konturieren, wie sie seit Ende des 18. Jahrhunderts vorzugsweise in nationalem Gewand generiert werden – Müller-Funk nimmt oben ausdrücklich auf diese Sachverhalte Bezug.

Kulturelle Gemeinschaften im Sinne von Erzählgemeinschaften zu perspektivieren, zielt auf die strukturierenden ebenso wie die performativen Potentiale von Erzählungen/des Erzählens, von Geschichten und (Ursprungs-) Geschichte: narrativ Welt im Sinne von realräumlicher Realität zu repräsentieren, zu bedenken und sinnhaft zu deuten, imaginäre (mediale/virtuelle/digitale), wahrähnliche oder reale Welten im Sinne von erfahrungsbasierter Deutungs-‘Wirklichkeit’ zu konstituieren, durch kulturell konventionalisiertes emplotment Ereignis- und Handlungssequenzen in eine integratives, epistemisch abgesichertes und kohärenzstiftend semantisiertes Ordnungs-Muster zu fügen. Kulturelle Kommunikation erhält derart eine narrative Grammatik eingeschrieben, die Alltagskommunikation ebenso wie alle medialen Versionen kommunikativer Repräsentation und Reflexion umfasst. Mit Koschorke werden Erzählungen entsprechend zu Orten sozialer Dynamik: “Wo immer sozial Bedeutsames verhandelt wird, ist das Erzählen im Spiel. Es stellt keinen Funktionscode unter anderen dar, sondern eine Weise der Repräsentation und Mitteilung über alle kulturellen Grenzen hinweg” (Koschorke 2012, 19). Erzählen ist also menschliche Universalie, ist mit Hayden White metacode (vgl. Koschorke 2012, 19), der seinerseits heterogene Erzählgemeinschaften und Identitäten generieren lässt.

Kulturelle Gruppen als Erzählgemeinschaften stellen mit Nünning “Deutungs- und Interpretationsgemeinschaften” dar (Nünning 2013, 43), die Erzählungen als kollektiv aktualisiertes Muster der Ordnungsbildung nutzen, das zugleich in der Lage ist, “Grenzüberschreitungen und Verstöße gegen die als normal geltenden Verhaltensmuster zu domestizieren und neue Erfahrungen zu assimilieren, […] die Mitglieder von Erzähl- und Interpretationsgemeinschaften an Neues zu gewöhnen bzw. sie damit vertraut zu machen” (Nünning 2013, 43). Erzählungen und Erzählen geraten dergestalt zum zentralen Medium kultureller Aushandlungs- und Zirkulationsprozesse, welches nicht nur Identität qua othering ausbildet oder Wissen und Normen (affirmativ, kritisch, handlungsanleitend, gesetzgebend) vermittelt, sondern qua fiktionaler Potentiale auch kulturelle Flexibilität, Permeabilität und Dynamik gewährleisten kann. Erzählgemeinschaften sind in ebendiesem Sinne auch Wertegemeinschaften (Nünning 2013, 45), die sich narrativ fundierte, kollektive Wirklichkeitsmodelle samt Identitäts- und Differenzlogiken, ein darauf abgestimmtes (regionales, nationales) kulturelles Gedächtnis sowie Zukünfte generieren, während sie gleichzeitig narrativierend Normenkritik und Konfliktlösung betreiben.

Diese Einsichten verlangen nun, so die Argumentation Nünnings, nach einer kulturwissenschaftlich aufgestellten Erzählforschung, die ihren Narrationsbegriff vom engen, strukturalistisch basierten literarischen Bezugsrahmen ablöst und um die vielfältigen nicht-literarischen “Wirklichkeitserzählungen”der sozialen Praktiken erweitert (Klein, Martínez 2009). In Frage steht dabei, “wie Erzählungen Kulturen erzeugen” (Nünning 2013, 19), wie sehr also kulturelle Gruppen bzw. Kulturen narrativ konstituiert sind und sich ihre Welt zugleich narrativ konstituieren. Hierzu sind transdisziplinäre Heuristiken vonnöten, die aus unterschiedlichsten Blickwinkeln Status, Formen, Strukturen und Funktionen des kulturellen emplotments in einer Vielfalt von kulturellen Zusammenhängen zu betrachten erlauben. Bereits geleisteten Arbeiten beispielsweise in der Anthropologie, der Ethnologie, den Geschichtswissenschaften, der Kunstwissenschaften, der Philosophie, den Medienwissenschaften und der Psychologie sind entsprechend um neueste narratologische Überlegungen in den Wirtschaftswissenschaften, der Jurisprudenz, den Naturwissenschaften, der Medizin usf. zu erweitern, um durch Maximierung der Gegenstandsbereiche einen umfassenden Zugriff auf die kulturkonstitutiv-weltdeutenden Potentiale des Erzählens zu gewinnen. Dies meint insbesondere die Beschäftigung mit faktualen Erzählungen, die ebenso wie die trägermedial zirkulierten fiktionalen oder virtuellen Erzählungen (Literatur, Künste, digitale Medien, Film etc.) an den narrativen Praktiken der Erzählgemeinschaften beteiligt sind. Eine hierüber zu erwirkende kulturwissenschaftliche Theorie des Narrativen sowie eine autoreflexive Debatte über den Nutzen respektive die Schwächen eines derartigen Zugriffs auf Kultur würde den Rahmen für weitere Überlegungen in diese Richtung abgeben. Bei Koschorke finden sich entsprechende Leitfragen bereits ausformuliert: “Was bedeutet es, wenn der Gedanke der unhintergehbaren Sprachlichkeit des menschlichen Weltzugangs durch ein Modell der narrativen Organisation dieses Bezugs ergänzt und präzisiert wird? Was gewinnt man dadurch, den Aspekt der Erzählung hervorzuheben?” (Koschorke 2012, 10)

Nünning will Kultur (welcher er drei dynamisch miteinander rückkoppelnde Dimensionen zuordnet: die materiale, mentale und soziale Dimension; vgl. Nünning 2013, 28)[3] als Erzählgemeinschaft respektive die “Narrativität von Kulturen”(Nünning 2013, 27) sowie die “Kulturalität von Narrativen”(Nünning 2013, 27) auf neuartige Weise beleuchten. Ihm geht es darum, sich der “kulturellen Bedingtheit und historischen Variabilität von Erzählformen” (Nünning 2013, 27), dem “wechselseitigen Bedingungszusammenhang zwischen Erzählen und Kulturen” (Nünning 2013, 28) anzunähern: “Somit wird Kultur als der von Menschen erzeugte Gesamtkomplex von Vorstellungen, Denkformen, Empfindungsweisen, Werten und Bedeutungen aufgefasst, der sich in Symbolsystemen materialisiert” (Nünning 2013, 28).

Erzählgemeinschaften im von Nünning dargelegten Sinne sind also in der Regel als politisch und/oder ethisch, je nach Sachlage wohl auch sprachlich begründete kulturelle Gruppen zu fassen, die sich in Hinblick auf ihr konventionalisiertes narratives Reservoir von anderen kulturellen Gruppen abheben. Die von Nünning eingeforderte kulturwissenschaftliche Narratologie muss also nicht nur transdisziplinär praktikable Methoden und deren theoretische Begründung generieren, um sicherzustellen, diesen narratologischen Anteil von Kultur in seiner kulturtypischen ebenso wie in seiner formalen oder ästhetischen Vielfalt beschreiben und analysieren zu können. Sie muss ebenso in der Lage sein, das spezifische narrative Reservoir einer kulturellen Gruppe samt zeit- sowie kulturtypischer Semantiken und Hierarchien, Reichweitenbemessungen und repräsentativer Leistungsfähigkeit von jenen anderer kultureller Gruppen diversifizieren sowie in komparatistischer Hinsicht systematisieren zu können. Kurz: das avisierte Feld der kulturwissenschaftlichen Erschließung narrativ operationalisierter Modi “der Selbst- und Wirklichkeitserfahrung sowie der kulturellen und sozialen Wirklichkeitskonstruktion” (Nünning 2013, 33) ist komplex aufgestellt. Es ist zudem dezidiert politisch konturiert und zielt auf neue Begriffsbildungen, die bemüht sein müssen, bestehende Grenzziehungen zwischen Hochkultur und Alltagskultur, zwischen Fiktionalität und Faktualität, zwischen Materialität und Virtuellem zu beseitigen, zumindest zu verschieben. So liegen Öffnungen und Grenzüberschreitungen der betroffenen Wissenschaften und ihrer Selbstbeschreibungen an, die neue Begriffe von Kommunikation, von Medialität, von Politik verlangen – und in der Tat seit einigen Jahren im Gange sind.

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