Mamma Roma, leb’ wohl?
Und ich ging weg aus diesem Rom… (Remo Remotti 1987)[1]
Roma caput mundi?[2] Schon möglich... Mich verschlug es das erste Mal 1947 dorthin. Hingelangt war ich auf wahrlich verschlungenen Wegen. Rom gehörte – auf meiner ganz persönlichen Weltkarte eines Zwanzigjährigen – zwar zu den berühmten Hauptstädten, doch viel mehr bedeutete mir die Stadt nicht. Der Papst war dort, was wohl zu ihrer Originalität beitragen mochte.
1947 war für mich ein Jahr großer Entdeckungen, nach Art eines Marco Polo oder Ryszard Kapuściński. Nach 11 Jahren Abgeschiedenheit in Palästina, wo ich die mehr oder minder ungebrochenen Spannungen zwischen Juden und Arabern miterlebt hatte, und seit 1939 mit den zusätzlichen Belastungen des Zweiten Weltkriegs, konnte ich mich erstmals wieder frei bewegen.
Erst kurz zuvor hatte ich in jenem Jahr eine andere europäische Hauptstadt erreicht: Prag. Dort lebte ich seit ein paar Monaten zwar nicht in unangenehmen, aber ziemlich ungewissen Verhältnissen mit Yudka zusammen, meiner damaligen Freundin, die bald darauf meine erste Ehefrau wurde.
Sie entstammte einer slowakischen Familie und auch sie war nach Palästina geflüchtet: Wir – die Bachmanns – 1936 aus Deutschland; sie hingegen 1938 aus der Tschechoslowakei, infolge der Sudetenkrise. Wir alle waren Juden auf der Flucht aus Hitlers Zangengriff, der – angesichts der Ohnmacht der großen demokratischen Nationen Europas – bald zur Auflösung der Tschechoslowakei führen und die Deutschen in das Verderben des Krieges und in die grässliche Katastrophe der Schoah treiben sollte.
Abb. 1. Gideon und Yudka, Palästina, 1947
Ich und Yudka, wir waren damals beide außerordentliche Untertanen Seiner Majestät, ’Gäste’ im Britischen Mandatsgebiet in Westpalästina: Ich lebte in Tel Aviv, sie in Haifa. Was heute eine kurze Entfernung ist, war in jener Zeit eine schwer zurückzulegende Strecke, mit behelfsmäßigen Verkehrsmitteln, in einem in vielerlei Hinsicht primitiven Land, zumindest in den Augen entwurzelter Europäer wie uns. Wir waren schon ein Paar: Verlobte, die sich zumeist am Wochenende trafen und – so gut es ging – von der ’Toleranz’ meiner bürgerlichen Eltern profitierten, die sich letztlich dazu entschließen konnten, uns ein wenig Intimität zuzugestehen und in dem Haus, das wir gegenüber dem Meer von Tel Aviv bewohnten, unser gelegentliches Zusammensein als junges Paar zu dulden.
Palästina konnten wir unter dem Vorwand der Teilnahme am ersten Festival der sogenannten ’Demokratischen Jugend’ verlassen, auf dem sich junge Menschen aus mehreren Ländern versammelten, vor allem Aktivisten sozialistischer und kommunistischer Gruppierungen. Kommunisten waren wir zwar ganz bestimmt nicht; aber immerhin hatte es uns der Anschluss an jene verworrene Schar von Leuten ermöglicht, die nach Prag aufbrechen wollten, mit einiger Erleichterung die kleine – und turbulente – Welt des Nahen Ostens hinter uns zu lassen, die uns nicht immer begeistert hatte. Auf der Fahrt – wir durchquerten Jugoslawien und Ungarn – lernten wir eine Hymne in vielen Sprachen auswendig und führten ein gemeinschaftliches Leben, was mir (schon seit meinen ersten Erfahrungen im Kibbutz) nicht gerade zusagte, insbesondere wegen der äußerst seltenen Gelegenheiten zum Sex, der uns gemäß einer puritanischen Auslegung der revolutionären Begeisterung mehr oder minder verboten wurde. Im August war das Festival zu Ende und wir fassten den Entschluss, nicht zurückzufahren, zumindest nicht sofort. In Prag war es Yudka inzwischen gelungen, einige ihrer Familienangehörigen wiederzutreffen; und so begaben wir uns Anfang September 1947 auf Entdeckungsreise durch Europa.
Das Europa der Nachkriegszeit bestand infolge der Zerrüttung durch die schrecklichen Kriegswirren aus vielen verschiedenen Mosaiksteinen, die oft dramatisch, aber immer verdammt interessant waren. Von Prag aus beschlossen wir, das besetzte Österreich in Richtung Italien zu durchqueren, durch das ich schon 1936, im Jahr unserer Flucht aus Deutschland, mit meinen Eltern gereist war. Doch wie sollte das gehen – Reisen ohne weitere Geldquellen außer meinen womöglich zwar schönen, aber ganz sicher unterbezahlten Korrespondenzartikeln? Schließlich akkreditierte ich mich als Journalist – und tatsächlich war ich auch einer, zumindest teilweise. Ich schrieb für verschiedene Zeitungen, aber das reichte nicht aus, um unser Vorhaben in die Tat umzusetzen.
Da kam ich auf die Sache mit der Uniform. Den Einfall dazu hatte ich in Prag, als ich eines Tages vor dem Büro der Brichah[3] stand: Es war die Zeit der CARE Packages[4], der Pakete mit Milchpulver, Nahrungsmitteln und vielem mehr, wie sie später weltweit in alle möglichen Krisenregionen verschickt wurden, nach Gaza oder nach Ruanda zum Beispiel. Damals kamen die Hilfspakete aus Amerika nach Europa. Es wurden auch Kleider geschickt, manchmal neue, meistens jedoch gebrauchte.
Abb. 2. Gideon Bachmann in Uniform, Prag, 1947
In Prag in der Josefovská 5 fuhren große Lastwagen vor; die Leute kamen hin und nahmen sich, was sie brauchten. Unter den Klamotten waren oft auch Teile von Uniformen, also fing ich an, sie zu sammeln: Jacken, Mäntel, Mützen und allerlei Militärgegenstände. Von einem Sticker ließ ich mir dann mehrere Kragenspiegel mit der Aufschrift 'R.L.I. Correspondent: Militärkorrespondent' anfertigen. Einige Kragenspiegel ließ ich auf meine selbst zusammengestellte Uniform annähen, die zu keiner Armee und keinem Staat der Welt gehörte – und so brachen wir endlich auf, ich und Yudka.
Die Angehörigen der alliierten Truppen – der englischen, der französischen und der amerikanischen – hatten freien Zugang zu allen verfügbaren Verkehrsmitteln: Züge, Straßenbahnen, sogar Flugzeuge… Dank meiner Erfindung reisten wir umsonst: Man ging zum sogenannten Quartermaster – ich hatte damals noch diesen britischen Reisepass, der kein ’echter’ britischer Ausweis war, sondern ein Mandatspass; und dann hatte ich meine Presseausweise – und so ließ man uns fahren.
Ich hatte einen Garrison Pass[5], eine Art Passierschein, der weder echt noch gefälscht und jedenfalls nicht gerade ’orthodox’ war. Vielmehr war der Ausweis selbst echt, die Beweggründe hingegen, die zur Ausstellung des Passierscheins ausgereicht hatten, absolut zweifelhaft. Man konnte unmöglich als Korrespondent aus einem besetzten Land berichten, ohne im Land der Besatzer akkreditiert zu sein. Ich hatte einen englischen Ausweis, mit dem ich in Militärmensas essen und in Soldatengeschäften einkaufen durfte, wo es die für die Beziehung zum weiblichen Geschlecht damals so wichtigen Nylonstrümpfe und auch den Hershey’s Bar, den legendären Schoko-Riegel der Soldaten, zu kaufen gab. Sowie natürlich Zigaretten, die in jener Zeit als wichtige Ersatzwährung galten.
Wir begannen unsere Reise mit dem Zug, auch wenn die Züge damals mehr schlecht als recht fuhren und auch nur dort, wo mindestens ein Gleis intakt geblieben war und noch befahren werden konnte. Allein um über die Alpen zu kommen, benötigten wir mehrere Tage. Aber von Venedig nach Rom wurde uns dann ein Flugzeug zugestanden. Zum britischen Quartermaster (es war September 1947 und er war an der Piazza San Marco stationiert, dort wo heute das Museum ist) sagte ich mit einer gehörigen Portion Dreistigkeit: „Ich muss nach Rom fahren, mit meiner Frau! – die noch gar nicht meine Frau war, aber was soll’s… – Was gibt es für Verbindungen?“ Da führte man uns auf ein Wasserflugzeug, das vom Wasser aus ächzend startete und ziemlich gefahrenreich, aber mutig in Ciampino auf einer Metallpiste landete, die behelfsmäßig auf einem Boden voller Einschlaglöcher befestigt war, der seit den Bombenangriffen der Instandsetzung harrte.
Nach Rom hinein ging es über die Via Appia, was damals nicht einmal Cäsars Legionären zustand. Die Hauptstadt bot einen besonderen Anblick: Ihr Status als ’offene Stadt’ hatte sie während der Kriegsjahre nicht vor den Bombenangriffen auf das Viertel von San Lorenzo bewahrt. Ebenso wenig hatte die deutsche Besatzung die Stadt mit Gräueltaten verschont, die damals noch lebendig im Gedächtnis der Römer hafteten: Verzweifelt beklagte man die Opfer der Ardeatinischen Höhlen und die Deportierten der brutalen Judenrazzia des 16. Oktober 1943. Und doch schien mir Rom – von der Stadt hieß es, sie habe ihren Schutz dem katholischen Papst und seiner persönlichen Fürsprache beim Allmächtigen anvertraut – weniger leidend als andere Hauptstädte, die ich kurz zuvor gesehen hatte oder bald darauf besuchen sollte. Das monumentale Stadtzentrum mit seinen Altertümern aus Kaiserzeit, Renaissance und Barock hatte seinen Zauber fast vollständig bewahrt; vielleicht etwas heruntergekommen, aber jedenfalls bezaubernd. Wir sahen den Petersplatz, das Kapitol und das Forum Romanum und umfuhren im Jeep das Kolosseum; ferner noch den Gianicolo-Hügel, den Trevi-Brunnen und andere Orte, die mir entfallen sind, die vielleicht recht konventionell sind, aber für unser damaliges Empfinden von atemberaubender Schönheit waren.
Die Bewohner Roms, die den (verbündeten) deutschen Besatzern weitgehend feindlich gesonnen waren, zeigten sich gegenüber den Anglo-Amerikanern meist gastlich und wohlwollend: Überall wurden wir mit mehr oder minder aufrichtiger Sympathie von Menschen empfangen, die ihre Weste reinwaschen und ihre faschistische Vergangenheit bei den Militärs möglichst vergessen machen wollten, um sich schließlich wieder dem Kreis der demokratischen Nationen zurechnen zu können. Die Frauen waren außerordentlich herzlich: Voller Neugier blickten sie auf meine merkwürdige Uniform, die durch ihre Originalität hervorstach. Leider konnte ich mit ihnen kaum Kontakt aufnehmen, da mich Yudka praktisch überallhin ’eskortierte’ und sich benahm wie meine Ehefrau, auch wenn sie es noch nicht war.
Kaum hatte ich begonnen, von dem Zauber der ’ewigen Stadt’ zu kosten, als – nur zwei Tage nach unserer Ankunft – ein für mich unerwartetes Ereignis eintrat: Eines Morgens kam ich zum Büro des britischen Quartermaster in der Via Quattro Fontane im Palazzo Barberini, in welchem sich die Nationalgalerie für antike Kunst befand und in den ich einmal zur Ausgabe von Essensrationen gegangen war. Ich wollte mich um eine Fahrgelegenheit nach Genua bemühen, doch überraschenderweise war das Büro geschlossen und auch das gewohnte Kommen und Gehen, das allen bürokratischen Einrichtungen und Militärämtern gemein ist, blieb aus. Ich verstand nicht, warum. Ein Soldat, den ich fragte, als er im Sidecar vorfuhr um einen Unteroffizier einzusammeln, verriet es mir: An jenem Tag war die Besatzung aufgehoben worden, das Büro gab es nicht mehr…
Wir hatten kein Geld mehr – weder in Lire noch in sonst einer Währung (damals waren mehrere im Umlauf) – und wohnten in einer bescheidenen Pension. Wir rechneten ein wenig und beschlossen, unsere Weiterreise aufzuschieben und einige unserer Wertsachen zu verkaufen. So bekamen wir das notwendige Geld für zwei Fahrkarten in der dritten Klasse zusammen. Unser Wagen war reichlich mit Menschen und Tieren bevölkert. Am Ende verließen wir Rom und gelangten an der Seite eines Bauern, der mit einigen Hühnern reiste, binnen 24 Stunden nach Genua.
Abb. 3. Britischer Mandatspass von Hans Werner Bachmann
Der Aufenthalt von 1947 war letztlich kaum mehr als ein Gruß dieser Stadt. Der zweite sollte schon kurze Zeit später folgen, nämlich 1950. In diesem Zeitraum von knapp drei Jahren war es in meinem Leben zu einem weiteren Richtungswechsel gekommen. Nach der Europareise – neben Österreich und Italien hatten wir Frankreich, Deutschland, Polen, Belgien und die Schweiz besucht – waren Yudka und ich nach Prag zurückgekehrt. Dort war ich auch, als die Kommunisten in der Tschechoslowakei die Macht übernahmen; und ich war ebenfalls dort, als nur einige Monate später, am 14. Mai 1948, der unabhängige Staat Israel ausgerufen wurde.
Für uns waren das überraschende Ereignisse, obwohl sie im Nachhinein betrachtet vielleicht vorhersehbar waren. Vor allem die Staatswerdung Israels: Niemand rechnete damit, auch wenn viele die Entwicklung begrüßten. Unverzüglich erfasste mich die Mobilmachung des Militärs, die mit der Einberufung der jungen Leute den Schutz gegen Angriffe durch arabische Länder und somit das Überleben des Staates gewährleisten sollte.
Viele von uns befanden sich in dieser Situation: ohne Papiere – ich mit dem britischen Mandatspass, der bald jede Gültigkeit verlieren würde – und ausnahmslos zur Rückkehr nach Israel rekrutiert, um zu kämpfen. Uns wurden Reisepapiere für die Rückführung nach Israel ausgestellt. Auch hierfür war das Büro in der Josefovská 5 zuständig, das bis dahin als Sitz der Brichah gedient hatte und nun umgehend zur provisorischen Vertretung des neu gegründeten Staates umfunktioniert wurde, mit denselben Sekretärinnen und demselben Personal, in der fünften Etage des Gebäudes.
Doch ich wollte nicht wieder dort ’runter’ und schon gar nicht, um zu kämpfen. Was mir zu Hilfe kam waren der Zufall und meine Sprachkenntnisse. Aber diese Geschichte ist so bezeichnend, dass sie ein eigenes Kapitel verdient. An dieser Stelle genügt es festzuhalten, dass ich, Hans Werner Bachmann, ein früherer verfolgter Bürger des deutschen Dritten Reichs und dann Untertan seiner britischen Majestät, in jenem Sommer 1948 ein Visum für die Vereinigten Staaten von Amerika erhielt, das auf einen israelischen Passierschein aufgeklebt war, der seinerseits auf den britischen Reisepass genäht wurde. Kurz vor meiner Abreise heiratete ich Yudka mit einer recht minimalistischen Zeremonie, die eilig in den Büros des Rathauses abgewickelt wurde, und ging schließlich am 19. August in New York an Land, als Passagier des Schiffes S.S. America, das genau eine Woche zuvor aus dem Hafen von Le Havre ausgelaufen war.
Die ersten Jahre in Amerika waren maßgeblich von meinen Versuchen geprägt, dort drüben ein Auskommen zu finden. Ich hielt mich über Wasser, so gut es eben ging: Ich arbeitete in einem Supermarkt, lieferte Waffentransporte aus, erteilte Hebräischunterricht… Ich war weiterhin Korrespondent für verschiedene Zeitungen und versuchte nebenher, eine Touristikagentur für Reisen nach Israel zu eröffnen. Dabei wäre es für mich unklug gewesen, dorthin zu reisen, da ich unverzüglich ’militarisiert’ worden wäre. Aber meine Eltern lebten nach wie vor in Tel Aviv und Amerika war zu weit weg für sie. Also beschlossen wir, wenigstens einen Teil der Familie zusammenzubringen, sozusagen auf quasi halbem Wege, und unsere Wahl fiel auf Rom: Als Reiseagent konnte ich manchmal an sehr billige Flüge kommen, wobei ich von der Strategie der Fluggesellschaften profitierte, die hofften, dadurch Passagiere aus dem Schiffslinienverkehr abzuwerben, der damals noch den bevorzugten Transportweg für Reisen über den Ozean ausmachte. Es kam zu einem sonderbaren Treffen zwischen dem ambitionierten, etwas außer Form geratenen, sich gerade ‚amerikanisierenden’ jungen Mann, der ich zu jener Zeit war, und einer Frau mittleren Alters, meiner Mutter, die – als Zionistin den Klauen der Nazis entronnen – sich beharrlich zu überleben bemühte; und das in einem Land, das gerade erst entstanden war, aber ständig seine Kräfte mobilisierte und seinen Platz unter den Nationen noch immer suchte.
Eine Unterkunft fanden wir in einem kleinen Hotel in der Innenstadt – ich weiß nicht mehr welches – und ich versuchte mich als ihr ’Cicerone’, wie man in Rom die nicht selten improvisierten Stadtführer nennt, von denen die Touristen auf ihrer Entdeckungstour durch die Stadt begleitet werden.
Abb. 4. Bella Strassburger Bachmann, Rom, 1950
Für sie war es seit ihrer Flucht nach Palästina 1936 das erste Mal in Europa. Ich erinnere mich daran, wie begeistert sie war, ein bisschen melancholisch und neugierig, hin- und hergerissen zwischen der Sehnsucht, ihre europäische Welt wieder zu betreten und der Neugier auf das schöne, aber etwas zu morgenländische Italien.
Die Spuren des Krieges wurden schwächer und die Stadt war bemüht, nach der abrupten Unterbrechung der grandiosen Projekte Mussolinis zur Entfaltung einer imperialen Hauptstadt, ihren Weg wiederzufinden. Die Feierlichkeiten zum Heiligen Jubeljahr waren im Gange und es war spannend, die Massen der Pilger zu sehen, die scharenweise und hingebungsvoll die Kultstätten besichtigten – in einigen Fällen waren es dieselben, an die ich auch meine Mutter führte – und bei den großen Basiliken zusammenliefen, begeistert von ihrem Papst, der mit theatralischer Gestik auftrat und beinahe so redete wie ein politischer Führer.
1950 reiste ich allein; Yudka und ich hatten uns, trotz aller guten Vorsätze, beinahe gleich nach meiner Abreise in die Staaten getrennt (per Brief); sie hatte beschlossen, sich mit Yehuda zusammenzutun, einem gemeinsamen Freund von uns beiden: 1949 bekamen sie auch eine Tochter. Obwohl mich nun keine Uniform mehr zierte, schienen die Römerinnen mir als Amerikaner, der ich noch gar nicht war, weiterhin nicht abgeneigt (erst 1953 sollte ich Amerikaner werden, unter meinem neuen Vornamen: Gideon). Und dieses Mal ließ ich die Gelegenheit nicht aus, mit einigen von ihnen Bekanntschaft zu machen.
Ich ging zurück nach New York. Von Yudka ließ ich mich scheiden, um Rachel, eine junge polnische Jüdin, zu heiraten, die mit ihrer Familie (ihr Vater war ein bedeutendes Mitglied des jüdischen Arbeiterbundes[6]) während des Krieges dank einer abenteuerlichen Flucht dem vereinten deutsch-sowjetischen Zangengriff gegen Polen entronnen und nach einer unwahrscheinlichen Reise durch Sibirien, Japan und Alaska in die Vereinigten Staaten gekommen war: Durch sie erhielt ich die amerikanische Staatsbürgerschaft und die Möglichkeit, den Vornamen Gideon zu tragen, der erstmals in meinem US-Reisepass stand und der mir seither die Möglichkeit gab, der Welt ganz offiziell mit einer funkelnagelneuen Identität zu begegnen.
Ich versuchte mein Glück als Bildhauer, aber das war kein Beruf, mit dem ich ein würdiges Leben hätte bestreiten können. Zu dem Zeitpunkt erinnerte ich mich an meinen entfernten Verwandten Hans Richter, der schon damals ein bekannter Vertreter der Dada-Bewegung war: Ich suchte ihn auf – er leitete das Filminstitut am City College in New York – und, nachdem er mich eine Weile ziemlich verdutzt angehört hatte, sagte er zu mir: „Weißt du, ich glaube, aus dir wird niemals ein wirklich großer Bildhauer. Warum kommst du nicht für einen Tag in meine Filmkurse? Vielleicht interessiert dich das...“ Meine Beziehung zum Film – mit dem ich bis dahin nur als Zuschauer zu tun gehabt hatte und das noch nicht einmal mit besonderem Interesse – begann auf eben diese Weise.
Nur wenig später bat mich der Radiokanal der Fordham University, eine Hörfunksendung zu moderieren, und ich – der über die Welt des Films noch nicht viel wusste – bereitete mich für fünfzehn Minuten Sendezeit drei Monate lang vor: Ich informierte mich, las Bücher, tauschte mich mit Fachleuten aus… Es wurde ein unverhoffter Erfolg. Nach kurzer Zeit ’vergrößerte’ sich das Programm: Die Sendung wurde fortan wöchentlich ausgestrahlt, mit einer beträchtlichen Einschaltquote, und es kamen Gäste ins Studio, die sich mit mir über die verschiedensten Themen unterhielten. Die Sendung erreichte eine Länge von 90 Minuten und wurde in Kanada von CBC und in England vom dritten Programm der BBC ausgestrahlt.
Ich lernte, wie man eine 16-mm-Filmkamera bedient, und begann, selbst etwas damit zu machen. Zu meiner New Yorker ’Klasse’, dort bei Hans Richter, gehörten Jonas Mekas, Bob Brooks und Shirley Clarke. Eines Tages kam 1957 ein fast noch unbekannter Italiener namens Federico Fellini nach New York, der seinen Spielfilm Die Nächte der Cabiria bewerben wollte. Ich suchte ihn in seinem Hotelzimmer auf. Nicht zuletzt dank des guten Aussehens von Suzie, meiner damaligen Lebensgefährtin, kamen wir schnell ins Gespräch und ich fing an, ihm meine Fragen zu stellen. Das Interview wurde ein Erfolg und bildete den Ausgangspunkt für eine Bekanntschaft, die sich bald, zumindest zeitweilig, in so etwas wie Freundschaft verwandeln sollte.
Als ich dann 1961 nach Europa zurückkehrte, besuchte ich den Maestro in Rom auf dem Set zu Die Versuchung (aus dem Episodenfilm Boccaccio 70). Fellini drehte zwischen Cinecittà und dem EUR, jenem rationalistischen und ein wenig ’metaphysischen’ Stadtviertel, das im Faschismus entworfen und erst in der Nachkriegszeit fertiggestellt wurde. Mit ihm arbeiteten ein erheiternder Peppino De Filippo und eine überwältigende Anita Ekberg, die sinnlich und wunderschön durch die Kulisse schritt, die die Hauptachse des Viertels, zwischen dem Palast der italienischen Zivilisation – dem quadratischen ’Kolosseum’, wie die Römer ihn nannten – und dem neuen Kongresspalast nachbildete. „Trinkt mehr Milch!“, tönte das Lied anspielungsreich im Hintergrund, während die Kamera Ekbergs üppiges Dekolleté ins Bild nahm.
Mir kam die Idee, Fellinis Leben in einem Buch zu erzählen, und er erklärte sich – wenn auch mit jener ironisch gefärbten Koketterie, die so typisch für ihn war – überraschenderweise damit einverstanden. Also kehrte ich umgehend nach New York zurück und unterzeichnete einen Vertrag mit dem bedeutenden Verlagshaus Simon & Schuster, das meine Biografie drucken wollte. Vom Verlag bekam ich einen Vorschuss, der – für damalige Verhältnisse – ziemlich übertrieben war: 1000 Dollar. Und das für ein Buch, das letztlich niemals erscheinen sollte und über das man – wenn man wollte – eine eigene Geschichte erzählen könnte.
Das Schicksal hatte also beschlossen, dass ich ein weiteres Mal in Rom landen sollte. Es war Anfang der legendären 60er Jahre und dieses Mal war ich mir sicher, dass eine echte Liebe daraus erwachsen würde, für immer oder zumindest für lange Zeit, denn ich dachte mir, dass diese – nach Paris – nun endlich die Stadt war, in der ich gerne leben wollte.
Ich hatte diese wunderbare Wohnung am ’Torre del Grillo’ gefunden, mit Blick auf kaiserzeitliche Altertümer; dort wohnte ich mit Margherita, einer jungen, sehr reizenden Sozialwesen-Studentin aus der italienischsprachigen Schweiz, bei der ich – vor allem nach dem Ende unserer Beziehung – oft das Gefühl einer verpassten Gelegenheit hatte. Aber so etwas sagt sich hinterher immer leicht.
Abb. 5. Blick auf Rom vom Torre del Grillo aus, 1962
Es war wirklich schwierig, sich von diesem magischen Ausblick auf die Stadt nicht verzaubern zu lassen. Aber nachdem ich die Wohnung aufgegeben hatte, kam es mir stets so vor, dass ich in Rom auch einen anderen idealen Ort zum Leben hätte finden können. Im Grunde habe ich, wie viele anderen auch, den Zauber und die Atmosphäre in mir aufgenommen, die in den Zeichnungen von Ulla Kampmann so schön zum Ausdruck kommen.
Mit dem Auto konnte man überall hinfahren. Ich hatte mir diesen offenen Alfa Giulia Spider zugelegt – mit amerikanischem Nummernschild, oder vielleicht war es schweizerisch –, mit dem ich Margherita oft von der Piazzetta des Aventin abholte, wenn sie aus ihren Vorlesungen kam. Ich führte wirklich ein brillantes Leben: Abendessen, Frauen und gesellschaftliche Anlässe, während ich anderntags für Fellini auf dem Set von 8 1/2 Darsteller war oder Aufnahmen machte; diese schönen Fotos, die erst vor einigen Jahren in Buchform erschienen sind.[7] Ich veröffentlichte auch Interviews und Artikel für die Kulturseite des Messaggero, der unter den italienischen Tageszeitungen stets als Sprachrohr der typisch römischen Denkungsart gedient hat.
Abb. 6. Il Messaggero, 24. August 1973: Gideon Bachmann interviewt Pier Paolo Pasolini auf seiner Persien-Reise
In New York hätte ich ein solches Leben niemals führen können. Im Grunde waren Europa, vor allem das Italien und das Rom jener Jahre, für mich als mehrsprachigen jungen Mann aus Amerika, der noch dazu in der Filmwelt arbeitete – also aus der Sicht eines Volkes früherer Bauern im magischsten aller Berufe – so etwas wie ein wärmender Uterus, in dem ich völlig ungehindert, frei von allen Sorgen leben und mich entfalten konnte.
Über viele lange Jahre hinweg lief mein mondänes römisches Leben so weiter; es war vielleicht ein bisschen frivol, aber alles in allem glücklich, ohne zu viele Hindernisse und mit einigen Errungenschaften, zumindest bis in die Mitte der 70er Jahre. Allerdings mussten wir – ich und Margherita – die Wohnung am ’Torre del Grillo’ aufgeben. Die Agenturen, an die wir uns wandten, boten uns vor dem Hintergrund des Ortes, von dem wir wegzogen, alles Mögliche an: Zauberhafte und ungeahnte Orte, die meist nur für reiche Leute erschwinglich waren, zu denen ich jedoch nicht gehörte. Wir wählten also einen eher bescheidenen, aber dennoch stimmungsvollen Ort: ein Apartment in der Piazza Sant’Eustachio, im Herzen der Stadt.
Mit Margherita richteten wir diese Wohnung mit erotisch inspirierten Bühnenmöbeln ein, die zum Set von Satyricon gehört hatten – dabei stand unsere Beziehung kurz vor dem Ende. In der Zwischenzeit hatte ich Deborah kennengelernt. Wir waren uns in London zufällig in einem indischen Restaurant begegnet, während meiner Präsentationstour für Ciao, Federico![8], diesem Vorläufer des Backstage-Films – so nannte man es damals noch nicht – über Fellinis Regiearbeit. Es war Leidenschaft – und nicht nur Liebe – auf den ersten Blick. Sie – die zwanzig Jahre alt und Physiotherapeutin war – war fest entschlossen, mir nachzureisen, und um das tun zu können, lernte sie richtig gut zu fotografieren, bis sie auf ihrem Gebiet schließlich zu den Besten zählte.
Abb. 7. Deborah Imogen Beer, 1990
Sie erstritt sich ihren eigenen Platz in der Filmwelt, verschieden und unabhängig von meinem, auch wenn wir manchmal gemeinsam unterwegs waren, so auf dem Set von Die 120 Tage von Sodom, wo Pasolini ihr allein erlaubte, Szenenbilder und Set-Fotos seines schrecklichen und abstoßenden künstlerischen Vermächtnisses festzuhalten.
Zusammen mit Deborah bewältigten wir – schweren Herzens – den Auszug aus der Piazza Sant’Eustachio. Wir gingen nicht gerne von dort weg: Es war ein herrlicher Ort, mit Ausblick auf die Piazza della Rotonda, die wir sehr liebten, trotz des ständigen Lärms, der aus der Parlamentsdruckerei herüberkam. Doch angesichts der Kündigung stand uns 1986 das Wasser bis zum Hals und wir wussten nicht, wohin wir sonst hätten gehen sollen.
So kam es, dass ich einen gewissen Herrn Surini kennenlernte, der in einer Querstraße der Via Veneto eine Kunstgalerie namens Domus führte. Nebenbei war er auch als Immobilienagent tätig und ich schilderte ihm meine Lage. Daraufhin bot er mir ein Apartment im Stadtviertel Monteverde Vecchio an, im Viale di Villa Pamphili, unweit von jenem, das Pasolini in der Via Carini bewohnt hatte.[9] Eine herrliche Aussicht über die ’Antennen von Rom’, wie es mir leise über die Lippen ging, als ich sie erblicken durfte. Die Immobilie gehörte einer alten italienischen Bekannten von ihm, die einen reichen Amerikaner geheiratet und das Haus zurückgelassen hatte, um nach San Francisco zu ziehen mit der Absicht, eines Tages nach Rom zurückzukehren; sie vermietete an Touristen und Zugereiste, vor allem für begrenzte Zeiträume, weshalb das Apartment möbliert war. Er versicherte mir, dass ich – wenn ich wollte – dort einziehen könnte.
Ich sagte ihm zu, vor allem wegen der großen Terrasse, die Deborah dann mit ihren seltsamen Flaschen in den verrücktesten Formen anfüllte und wo sie sich gerne, mehr oder weniger nackt, in die Sonne legte, damit die neidischen und neugierigen Blicke der Nachbarn auf sich zog und womöglich auch manch einen Voyeur aus der Nachbarschaft erfreute. Innerlich hoffte ich weiter, dass wir – Deborah und ich – früher oder später noch ein anderes Zuhause ganz nach unserem Geschmack finden würden, und für eine Weile setzten wir unsere Suche noch fort. Und wiederum, genau wie etliche Jahre zuvor mit Margherita, als wir die Kündigung im ’Torre del Grillo’ im Nacken hatten, zeigte man uns zahllose Wohnungen, die künstlich hergerichtet waren, nur um die Touristen zu beeindrucken. Letztlich blieben wir dann in Monteverde, vielleicht mehr aus Faulheit als weil wir uns dazu entschlossen hätten. Wir wohnten zusammen und zwar nicht nur in Rom, sondern auch in dem Loft, den Deborah neben dem Haus ihrer Eltern in der englischen Provinz eingerichtet hatte, in einem anmutigen und wilden Ort, dessen Name – Hurley – ein wenig an ein Motorrad erinnert. Ferner hatten wir, etwa auf halbem Wege, noch eine dritte Absteige in Wiesbaden, weil ich für das ZDF arbeitete und Dokumentarfilme machte, die dann in Mainz montiert werden mussten.
Ich habe fast dreißig Jahre gebraucht, um mich von dieser Stadt abzulösen; dabei hatten mein Unmut und mein Unbehagen schon kurz vor Pasolinis Tod ihren Höhepunkt erreicht. Eine Stadt, in der gar nichts funktioniert, in der man alles nur über Bekanntschaften bekommt oder unter dem Tisch aushandeln muss, eine Stadt, die ungesittet und roh ist, eine Stadt voller Korruption, Schmutz, Erdbeben, Rauchschwaden und nicht zuletzt voller Lärm…
Wenn ich es mir recht überlege, hat es alle diese Dinge in Rom schon immer gegeben und vermutlich war es nur mein jugendliches Alter, das sie für mich weniger offensichtlich und besser erträglich machte; aber wenn ich heute daran denke, wundert es mich, wie lange ich es hatte ertragen können, an diesem Ort zu wohnen. Ich erinnere mich an ein Buch, das kritisch mit Rom ins Gericht ging und damals unter Beteiligung einiger der bedeutendsten zeitgenössischen Intellektuellen Italiens veröffentlicht wurde: Alberto Moravia, Dacia Maraini, Eugenio Montale, Enzo Siciliano. Die Überschrift lautete Contro Roma[10] und sorgte für ein gewisses Aufsehen, zumindest unter den ausländischen Italien-Korrespondenten, zu denen ich – oder jedenfalls ein Teil von mir – ohne weiteres zählte. Auch Pasolini hatte das praktisch von Anfang an thematisiert, mit jener beunruhigenden Klarheit, die ihn stets auszeichnete. Aber auch jenseits der anthropologischen Abweichungen Italiens hat wohl niemand wie er den Niedergang Roms und die Gewalt beschrieben, die der Stadt und ihren jungen Einwohnern widerfahren ist.[11] Ich war damals wie behext von Rom, obwohl ich gar nicht an Hexerei glaube.
Denke ich heute an die Geschichte jener Zeit zurück, an Rom und an Italien im Allgemeinen, so macht mich das in jenen Jahren vorherrschende Klima politischer Gewalt betroffen, das – übrigens dank der deutschen Filmkunst – so treffend als "bleierne Zeit“[12] bezeichnet wird. Aber wenn ich ehrlich sein soll, abgesehen von einzelnen, insgesamt eher unbedeutenden Episoden der Allgemeinkriminalität – wie vereinzelte Diebstähle von Filmmaterial und ähnlichen Dingen –, war meine private Existenz diesem Klima praktisch nicht ausgesetzt. Auch bei meinen Arbeiten für das deutsche Fernsehen – für das ich unter anderem mehrere Dokumentarfilme über verschiedene Aspekte des Lebens in Italien realisierte, und zwar einschließlich der politischen Sphäre – blieb Gewalt paradoxerweise ein im Großen und Ganzen zweitrangiges Thema. Wenn ich posthum eine Beurteilung wagen sollte, war ich damals vermutlich ein zerstreuter Journalist; und wenn ich ehrlich bin, war es wohl mein Engagement in der Filmwelt, das im Vordergrund stand.
Die letzten Jahre in Rom – vielleicht wiederhole ich mich – waren eher ein Alptraum als ein Traum. Zu Fellini hatte ich – infolge meines neuartigen, ihn jedoch wenig ansprechenden Porträtfilms Ciao, Federico!, der mich praktisch den Bruch einer Beziehung kostete, die mir als Freundschaft vorkam, in Wahrheit aber kaum mehr war als männliches Kameradentum unter Showleuten – praktisch keinen Draht mehr. Pasolini war auf tragische Weise zu Tode gekommen und das in jener, für sein schwieriges Menschenschicksal so vielsagenden Art und Weise, wie ich in einem im Schlussteil durch den Redakteur unversehens zensierten Artikel in Die Zeit[13] schrieb.
Ich setzte meine Arbeit fort. In Rom hatte ich meine Basis und war doch in der Welt unterwegs, mit Deborah oder auch ohne sie. Bis dann 1994, an jenem verfluchten Tag, nach einer Zeit vager, aber lästiger Unpässlichkeiten, eine Diagnose über sie hereinbrach, die uns zu Boden schmetterte: Leukämie.
Eine unheilbare Form, damals und womöglich auch heute. Wir begannen, regelmäßig das große San Camillo-Krankenhaus aufzusuchen, unweit von zuhause, wegen langer und wiederholter Klinikaufenthalte, auf die für Deborah Phasen der Abschottung und für mich die Erfahrung tiefer Trübsinnigkeit folgten. Rom war uns – auch wenn es unpraktisch war – keineswegs feindlich gesinnt, im Gegenteil. Ich hatte das Gefühl – bei dem diffusen Chaos, das damals in vielen Krankenhäusern regierte, wie auch in jenem Krankenhaus –, dass viele sich aufopferten, um uns zu helfen, obwohl sie machtlos waren. Ich schickte weiter Faxe um die Welt, in der Hoffnung, dass es außerhalb Roms doch irgendeine Möglichkeit gäbe, mehr zu tun.
Vergebens. Zusammen mit Paolo, meinem neuen italienischen Freund, den ich damals gerade erst kennengelernt hatte, versuchten wir zumindest Deborahs Willen zu entsprechen, als sie darum bat, nach England zurückkehren zu dürfen. Wir bereiteten ihre waghalsige und dramatische Heimreise vor, die ich hier nicht im Detail schildern kann, die es Deborah – die inzwischen in Rom im Eiltempo zu meiner dritten (und letzten) Ehefrau geworden war – erlaubte, in England zu sterben, wie es ihr Wunsch war. Ihre Asche habe ich – ebenfalls in Erfüllung eines ihrer Wünsche – einige Zeit später im Karibischen Meer verstreut.
Seither habe ich es – soweit es möglich war – vermieden, nach Rom zurückzukehren. Ein paar Anlässe in der Filmwelt, eine Retrospektive und das war schon alles. Da waren noch diese Wohnung, die nur Traurigkeit und Depression in mir hervorrief, und dazu ein Abstelldepot, vollgestopft mit Materialien, von denen ich nicht wusste, wo ich sie lagern sollte. Und da schlug mein Leben ein weiteres Mal eine neue Richtung ein. Auch wenn man nicht an den Ort zurückkehren sollte, aus dem man auf so tragische Weise verjagt wurde, nutzte ich die Chance, die mir Edgar Reitz geboten hatte,[14] als er mir vorschlug, in Deutschland – genauer gesagt in Karlsruhe – junge Leute anzuleiten, die sich der ebenso trügerischen wie verführerischen Kunst des Films widmen wollten. Die darauffolgenden Jahre sind daher so etwas wie die Zeit eines letzten Schiffbruchs an einem unerwarteten Ufer: Nach Stationen in Palästina, Prag, New York, Paris und Rom verschlug es mich schließlich wieder nach Deutschland zurück.
Mit der Zeit führte ich hier all die vielen Dinge zusammen, die ich in meinen Depots – also auch in Rom – gesammelt und aufbewahrt hatte. In Karlsruhe mietete ich – neben dem neuen Zuhause mit der Glyzinie in der Gartenstraße, gegenüber dem Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) – ein hübsches Loft zu Magazinzwecken an, um dort die Kisten öffnen und sortieren zu können, die nach und nach aus verschiedenen Richtungen eintrafen. Und so baute ich mir dieses Zuhause zusammen, mit Fragmenten aus so vielen verschiedenen Leben, dass es beinahe den Anschein eines Museums hatte.
Dass ich Rom verlassen habe, bedaure ich nicht und verspüre auch keine Sehnsucht. Dennoch, wenn ich an diese Stadt denke, fallen mir oft Pasolinis verzehrende und tragische Verse ein, die er Orson Wells in seinem Film Der Weichkäse[15] aufsagen lässt:
Ich bin eine Kraft der Vergangenheit.
Die Tradition allein birgt meine Liebe.
Ich komme von den Kirchenruinen,
von den Altartafeln, von den verlassenen
Dörfern des Apennins und der Voralpen,
wo die Brüder gelebt haben.
Ich streune über die Tuscolana wie ein Verrückter,
über die Appia wie ein herrenloser Hund.
Oder ich betrachte die Sonnenuntergänge, die Tagesanbrüche
über Rom, über der Ciociarìa, über der Welt,
gleich Anfangsakten des Posthistorischen,
denen ich beiwohne dank des Privilegs der Geburt
vom äußersten Rande irgendeines begrabenen
Zeitalters. Grausig, wer aus den Eingeweiden
einer toten Frau geboren ist.
Und ich, als erwachsener Fötus, wandle umher,
moderner als jeder moderne,
um Brüder zu suchen, die nicht mehr sind.[16]
Aus dem Italienischen von Antonio Staude
Literaturverzeichnis
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Permalink: https://www.lettereaperte.net/artikel/ausgabe-52018/357