Vorwort zur vierten Ausgabe von lettere aperte
Die vierte Ausgabe der lettere aperte beschäftigt sich mit dem aktuellen Thema des Fanatischen und beleuchtet dessen Darstellung in der italienischen Literatur und Kultur. Der Begriff des Fanatischen kann in seinen Wurzeln auf zwei Elemente zurückgeführt werden: einerseits auf das lateinische fanum – der 'Tempel', andererseits auf das arabische fana, in der Bedeutung von 'Zerstörung'. Während sich der religiöse Bezug mit der Aufklärung zusehends verliert, steht die Religion mittlerweile wieder im Fokus des idealistischen Fundamentalismus. Der Fanatismus überhöht die Vorstellung des Eigenen zur einzig gültigen Auffassung und wertet das Andere a priori ab. Damit geht ein Gestus der Allmacht einher, der sich gegenüber dem Anderen in symbolisch codierten Zeichensystemen medial inszeniert.
Vid. 1. Der Palio von Siena als fanatische Praxis (externes YouTube-Video)
Dabei gilt es unterschiedliche Formen und Konnotationen des Fanatischen zu unterscheiden: von Konzepten der Masse und Macht bis hin zu gesellschaftlich weniger kritischen (aber nicht weniger prägenden Konzepten) des sportlichen Fan(atismus). Das Fanatische bewegt sich zwischen Enthusiasmus und Wahn und verfolgt als telos meist die Verwirklichung utopischer oder dystopischer Ziele. Im Zusammenhang mit Literatur und anderen Medien lässt sich das Konzept in zweifacher Hinsicht verstehen: sowohl im Sinne der Inszenierung fanatischer Praktiken als auch als Eigenschaft des Literarischen selbst; denn gerade in Poetiken wie der des Futurismus wird das Fanatische nicht nur dargestellt, sondern zum fundamentalen Bestandteil der ästhetischen Anschauung.
Aus historischer Sicht ist das Konzept des Fanatischen aus der Entwicklung der europäischen Kulturen nicht wegzudenken: angefangen bei den Kreuzzügen, der Flagellantenbewegungen im 13. und 14. Jh., der Inquisition, der Judenverfolgung, dem propagandistisch gesteuerten Massenwahn im Ersten und Zweiten Weltkrieg bis hin zum imperialen Fanatismus zur Zeit des italienischen Kolonialismus. Spätestens seit den Attentaten zur Zeit des Risorgimento und der zweiten Hälfte des 20. Jhs. gilt der Terrorismus als Inbegriff des Fanatischen. Gerade für die italienische Kultur- und Literaturgeschichte ist das Thema damit von entscheidendem Stellenwert.
Für die italienische Literatur gibt es explizite Bezüge in der Darstellung des Fanatischen bei Goldoni (Il poeta fanatico), Alberto Moravia (Fanatico), Pasquale Rossi (L'animo della folla), Vincenzo Montis (Il fanatismo), Vittorio Alfieri (Della tirannide) oder im Werk Emilio Salgaris. Abgesehen von diesen expliziten Bezügen auf den Begriff des Fanatischen und dessen unterschiedlichen Verwendungsweisen sind die impliziten Bezüge innerhalb der italienischen Literaturgeschichte zahlreich, beginnend bei Dantes Divina Commedia, über die Ritterromane (bspw. im Orlando Furioso) bis hin zur literarischen Verarbeitung von Völkermord und Völkervertreibungen (bspw. in Äthiopien, Libyen oder auch der Armenier) im 20. Jahrhundert.
Abb. 1. Rolands Wahn in der Illustration von Gustave Doré
Am engsten verknüpft sich das Konzept des Fanatischen aber mit Fragen des Terrors, konkret mit den anni di piombo, den Machenschaften der Brigate Rosse bis hin zum Problemkreis Mafia in der literarischen und auch filmischen Verarbeitung. Leonardo Sciascia, Pier Paolo Pasolini oder Luigi Malerba, um nur einige wenige zu nennen, reflektieren den Themenbereich kritisch in ihrem Werk. Neben fiktionalen Darstellungen des Terrors gibt es aber auch Texte, die direkt von Mitgliedern des terroristischen Netzwerkes stammen, wie z.B. der memoirenhafte Text Il volo della farfalla von Adriana Faranda.
Die Beiträge, die in diesem Band versammelt sind, konzentrieren sich vor allem auf das 19. und 20. Jahrhundert. Der erste Beitrag untersucht die dargestellte Menschenmenge in Manzonis Promessi Sposi in ihrem fanatischen Potential, v.a. anhand einer Analyse des Mailänder Brotaufstandes. Wie der Beitrag zeigen wird, hat sich die italienische Soziologie des auslaufenden Ottocento auf Manzoni gestützt, um die fanatischen Dynamiken der Masse zu untersuchen, die dieser a priori unterstellt wurden. Die Koppelung von Fanatismus und Masse ist dabei typisch für die italienische und französische Soziologie des 19. Jahrhunderts und wird erst im Fin de Siècle wieder aufgelöst.
Dem Fanatismus im Kontext der symbolistisch-dekadenten Literatur nimmt sich Adriana Vignazia mit ihrem Beitrag an. In einer etymologischen Recherche zum Fanatischen zeigt sie, wie die kultisch-religiöse Ursprungsbedeutung bis heute dem Begriff inhärent ist und erst später um die politisch-soziale Dimension erweitert wird. Dabei differenziert sie den Begriff des Fanatismus von dem des Traditionalismus. Beide sind von einer Rückbesinnung und Überbewertung des Bewährten gekennzeichnet, der Fanatismus geht jedoch stets mit Gewaltbereitschaft einher. Im Prozess des "Sich Fanatisierens" kommt es folglich zu einer Sakralisierung der eigenen Ideen und einer gleichzeitigen De-Sakralisierung des Lebens anderer sowie des eigenen. Wie dieser "Sakralisierungsprozess" vonstattengeht, demonstriert sie anhand des Protagonisten Claudio Cantelmo aus Gabriele D'Annunzios symbolistischen Roman Le vergini delle rocce. Sie führt dabei überzeugend vor, wie nach der Klassifizierung Günter Holes Cantelmo als ein "explosiv stoßkräftiger Ideenfanatiker" und "aktiver persönlicher Ideenfanatiker" zu werten ist. Ziel der fanatischen Rückbesinnung ist hier eine Vormachtstellung des Künstlers als neue (alte) Elite und ein Ende demokratischer und sozialistischer Massenbewegungen.
Ist Fanatismus bei den anderen hier analysierten Texten ein vorwiegend nach außen gerichtetes Phänomen, wird er von Karin Schulz als nach innen gerichtete Dynamik beschrieben. Anhand der komplexen Identitätsstruktur (Verlust, Konstruktion, Wiedergewinnung etc. der eigenen Identität) von Luigi Pirandellos Protagonisten Mattia Pascal zeigt sie, wie dessen Identitätssuche sich in einer "rauschhaften" Spirale entwickelt und fanatisch steigert. Die Suche nach einem stabilen Ich entwickelt sich zwischen unterschiedlichen Handlungsextremen (v.a. der divergierenden Handlungen der Eltern, aber auch der beiden sein Leben bestimmenden Frauen) "asymptotisch". Vorgeführt wird, wie sich Fanatisierungsprozesse bei einer Identitätskrise wie der Mattia Pascals zwischen Übersteigerung und Ausgleich, zwischen Selbstermunterung und -zerstörung entfalten.
Einen Blick auf den Fanatismus der jüngeren italienischen Geschichte nimmt Doris Pichler vor. In ihrem Beitrag konzentriert sie sich auf den politisch linken und rechten Terrorismus in Italien zwischen den späten 1960er und frühen 1980er Jahren, den anni di piombo. Neben einer Begriffsbestimmung des Terrorismus als "Mittel, das auf Kommunikation" angewiesen ist und nur funktioniert, wenn es auch wahrgenommen, d.h. medial verbreitet wird, konzentriert sie sich auf die retrospektive medial-künstlerische Verarbeitung der Ereignisse dieser Jahre. Die Analyse von Texten von Sebastiano Vassalli (Abitare il vento, L'arrivo della lozione) und dem Film Il divo von Paolo Sorrentino zeigt, wie über eine selbstreflexive Ästhetik eine hochkomplexe, von Antagonismen und Widersprüchen geprägte gesellschaftliche Situation dargestellt werden kann.
Den 40. Jahrestag der Ermordung Aldo Moros nimmt Ingo Pohn-Lauggas um die Ereignisse, Zeugenschaften und Theorien rund um den caso Moro neu zu beleuchten. Im Mittelpunkt steht Leonardo Sciascias viel beachteter Text L'affaire Moro. Pohn-Lauggas diskutiert die Rolle von Intellektuellen inmitten einer sich zunehmend fanatisierenden Gesellschaft und führt anhand einer kritischen Lektüre des Textes diesen als Paradebeispiel für ein gelungenes impegno vor. Sciascia, der sich mit seinem Text stark an Originaldokumente hält, versucht sich in einer möglichst "wahren" Rekonstruktion des Falles, zielt aber darauf ab, Moro als Autor seiner Briefe in seiner Menschlichkeit zu zeigen und ihm das zu geben, was ihm von Seiten der Staatsmacht verwehrt geblieben ist, nämlich "pietà".
Abgeschlossen wird die vierte Ausgabe der lettere aperte wieder durch einen offenen Brief. Ziel dieser Rubrik, die in der dritten Ausgabe eingeführt wurde, ist es, Platz für essayistische Reflexionen zu schaffen; Reflexionen, die durchaus auch einen Hang zum Polemischen aufweisen und abseits der rein wissenschaftlichen écriture Gedankenassoziationen zum Thema der jeweiligen Ausgabe anstoßen sollen. So befasst sich die lettera von Guido Furci mit der Funktionalisierung einer Ästhetik des Leidens, eingebettet in einen Diskurs über akademisch-didaktische Gepflogenheiten. In essayistischer Manier stellt er die traditionelle italienische Literaturvermittlung den aktuellen Methoden an amerikanischen Universitäten gegenüber.
Bevor wir diese Ausgabe den Leserinnen und Lesern der Lektüre überlassen, möchten wir noch darauf hinweisen, dass die lettere aperte nun in neuem grafischem Gewand erscheinen. Die Seite wurde umstrukturiert, die Navigation erleichtert und visuell ansprechender gestaltet. Wir hoffen, dass dieses neue Erscheinungsbild Anklang findet. Der Dank für die Finanzierung dieser Ausgabe geht insbesondere an das Vizerektorat der Karl-Franzens-Universität Graz.
Wir wünschen den Leserinnen und Lesern eine ansprechende Lektüre.
Albert Göschl, Doris Pichler
Zitierhinweis:
Göschl, Albert/Pichler, Doris (2017), "Inszenierungen des Fanatischen in der italienischen Literatur. Vorwort zur vierten Ausgabe der lettere aperte." In: lettere aperte vol. 4, 5-11. [online https://www.lettereaperte.net/artikel/ausgabe-42017/305]
Abbildungen | Illustrazioni:
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Abb. 1. Der Palio von Siena als fanatische Praxis; Abbildung unterliegt einer Creative-Commons-Lizenz, abrufbar unter: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Il_Palio_di_Siena_luglio_2008_2.jpg
Abb. 2. Rolands Wahn in der Illustration von Gustave Doré; Die Abbildung unterliegt einer Creative-Commons-Lizenz, abrufbar unter:
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Permalink: https://www.lettereaperte.net/artikel/ausgabe-42017/305